Öffentliche Wirkungen heimlicher Freiheiten
Alles begann mit einem Bild: Die im Exil lebende iranische Journalistin Masoumeh Alinejad-Qomi, bekannt als Masih Alinejad, teilte im Mai 2014 ein Foto von sich auf Facebook. Es zeigt sie beim Joggen, mit offenem Haar, ohne Kopftuch.
Das Bild riss bei vielen iranischen Facebook-Userinnen alte Wunden auf. In ihren Kommentaren brachten sie ihre Sehnsucht nach dem gleichen Erlebnis zum Ausdruck. Die Resonanz war so groß, dass Alinejad beschloss, mehr Bilder ihrer "heimlichen Freiheit" aus ihrer Zeit im Iran zu posten. Es folgte etwa ein Bild von Alinejad am Steuer eines Autos – ohne Kopftuch. Schließlich rief sie die Web-Nutzerinnen dazu auf, mitzumachen. Ihre Facebook-Community antwortete mit Bildern, die gegen die Kleidervorschriften des iranischen Regimes verstoßen – Bilder, die im Geheimen aufgenommen wurden.
So entstand die Facebook-Kampagne My Stealthy Freedom ("Meine heimliche Freiheit"), die mittlerweile über eine Million Fans hat. Sie ist eine Kampagne gegen eine der höchst umstrittenen Bestimmungen in der iranischen Gesellschaft, nämlich die Bekleidungsvorschriften für Frauen.
Auch die heimliche Freiheit hat Gegner
Die Kampagne wollte einen öffentlichen Diskurs über das heimliche Ausleben von Freiheit anstoßen. Frauen, die sich zuhause und privat freizügig kleiden, die für ihr modernes Aussehen im öffentlichen Raum polizeilich verfolgt werden, sollten eine Bühne bekommen. Die persönliche Freiheit der Frauen im Iran sollte nach Jahren islamischer Herrschaft wieder in den Vordergrund gerückt werden und endlich einen Weg in die offiziellen Medien des Landes finden.
Denn: "Diese Frauen tauchen in offiziellen Medien nur als Verbrecherinnen auf, die von der Moralpolizei festgenommen werden", meint die Initiatorin der Kampagne. "Wenn sich durch My Stealthy Freedom auch nur eine Frau ihrer Rechte bewusst wird, habe ich mein Ziel erreicht", ergänzt die Journalistin und Webaktivistin Alinejad.
Und ihre Kampagne löste in kürzester Zeit eine heftige Diskussion aus – ein Zeichen dafür, dass Alinejad damit mehr als nur eine Frau ermutigen konnte. Traditionell tabuisierte Fragen und für selbstverständlich gehaltene Phänomene traten plötzlich ins Rampenlicht und wurden lebhaft diskutiert.Doch nicht alle fanden den Ansatzpunkt der Kampagne richtig. Skeptiker, insbesondere männliche Facebook-Nutzer, stellten ihn in Frage. Ihre Kritik lautete: Ist das wichtigste Problem der Iranerinnen wirklich bloß ein Stück Stoff auf dem Kopf?
Erste Bilder aus dem Iran wurden auf der Facebook-Seite mit üblen Kommentaren versehen. Frauen, die Bilder von sich ohne Kopftuch auf der Seite veröffentlichten, sollten sich schämen, die Bilder seien anzüglich, die Frauen "Huren", schrieben anonyme Nutzer. "Das war für die Frauen, die einen Fluchtweg aus der Unterdrückung durch ihre Familien und die Gesellschaft suchen, ein harter Schlag", so Alinejad.
Doch immer mehr Männer zeigten sich auch solidarisch. Eine von der männlichen Unterstützern der Kampagne initiierte Aktion machte Mitte 2016 Schlagzeilen: Sie posteten Bilder von sich mit bedecktem Haar – neben leicht angezogenen Iranerinnen. Die Bilder unter dem Hashtag #meninhijab ("Männer in Hijabs") gingen um die Welt. Die Teilnehmer standen den Frauen bei und setzten ein Zeichen gegen deren obligatorische Verschleierung. Die Ehre eines Mannes habe nichts mit der Verschleierung seiner Frau oder Schwester zu tun, so ihr Statement.
Der Staat als Hüter der Moral
Die iranischen Medien propagierten die islamischen Kleidervorschriften nach der Islamischen Revolution 1979 als Zeichen der "Moralität", "Würde" und "Reinheit" der Frauen. Die staatliche Interpretation von der richtigen Bekleidung einer Frau wurde dabei mehr und mehr mit der "Ehre" ihres Mannes, Vaters oder Bruders in Verbindung gebracht. So wurde ein kollektives Bewusstsein für den staatlichen Dress-Code verstärkt und ein Mechanismus der Selbstkontrolle geschaffen.
Die preisgekrönte Kampagne My Stealthy Freedom stellt somit etwas in Frage, das zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Plötzlich tauchten in iranischen Medien andere Attribute für den Terminus "Verschleierung" auf. Der Staat hält dagegen, spricht nicht nur wie gewohnt von "Verschleierung und Keuschheit", es werden sogar Diskussionsrunden zum Thema "Zwangsverschleierung" veranstaltet. So soll bewiesen werden, dass der Hijab kein Zwang, sondern eigener Wille der Frauen darstelle und ein Teil ihrer selbst gewählten islamischen Identität sei.
In den wöchentlichen Freitagsgebeten in den iranischen Moscheen, in denen die wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Themen des Landes angesprochen werden, richten sich die Prediger in Teheran, Isfahan und Maschhad gegen die Kampagne "Meine heimliche Freiheit". 2014 kritisierte der Vorbeter Kazem Sedighi im Teheraner Freitagsgebet: "In manchen Städten nehmen die Frauen ihre Kopftücher ab, man sieht immer wieder die völlige Enthüllung. Jegliche Art von Entschleierungen finden mittlerweile ihre Wege durch Satellitensendungen und Internet in die Häuser."
Botschaft an die Mitte der Gesellschaft
Im selben Jahr berichtete der staatliche iranische Fernsehsender, dass die Kampagnen-Initiatorin Masih Alinejad in ihrem Wohnort in London von drei Männern vor den Augen ihres Kindes vergewaltigt worden sei. Der TV-Moderator verglich sie deshalb auf seiner Facebook-Seite mit einer "alten Hure, die keinen Freier mehr findet und mit ihrer Kampagne jüngere Frauen dazu verführt, die noch keine Huren sind".
Die entstandenen Diskussionen sowie einige wenige Zugeständnisse des iranischen Regimes in Bezug auf Frauenrechte sind natürlich nicht nur der Kampagne zuzusprechen. Wie Kampagnen wie "My Stealthy Freedom" sich auswirken, welche Schichten der iranischen Gesellschaft sie erreichen, lässt sich an ihrem Echo messen. Der anhaltende Strom von Bildern und Videos auf die Facebookseite der Kampagne, die Debatten über das Thema Zwangsverschleierung zeigen eins: Ihre Botschaft ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das Thema "obligatorischer Hijab" als Symbol der Unterdrückung der Frau ist nicht mehr kleinzureden. Videos von gewalttätigen Sittenpolizisten werden schon lange nicht mehr ignoriert.
Die Diskussion wird nicht nur von der rebellierenden Generation, die sich mit den Werten der Islamisten nicht identifiziert, oder von den mächtigen Gegnern der Kampagnen, die alles politisieren, um einfacher unterdrücken zu können, fieberhaft verfolgt. Der gemäßigte Flügel des Regimes stellt mittlerweile oft die Frage, ob der harte Kurs in Sachen Verschleierung die jüngere Generation nicht eher zum Gegenteil angespornt hat.
Eine Stellungnahme der Enkelin des Gründers der islamischen Republik, Ayatollah Ruhollah Khomeini, sorgte bereits 2012 für Schlagzeilen. Naimeh Eshraghi sagte damals im Interview mit der Webseite Jamaran: "Wir wollten mit dem Hijab die Sicherheit der Gesellschaft erhöhen, doch das Gegenteil ist eingetreten."
Strenger als der Prophet
Die gläubige und verschleierte Muslimin kritisierte das gewaltsame Vorgehen von Sicherheitskräften gegen Frauen, deren Kleidung nicht ganz den Vorstellungen der Regierenden entspricht. Ihrer Meinung nach sei selbst der Prophet Mohammad in Bezug auf das Gebot, sich zu verschleiern, nicht so streng gewesen wie das iranische Regime.
Das Problem der Zwangsverschleierung ist im Iran also noch lange nicht gelöst. Und es wird sich wie ein roter Faden durch alle Aktionen ziehen, die Meine heimliche Freiheit initiiert. Die Community bleibt der Kampagne treu und zieht mit. Die Idee der "Männer in Hijabs" stammte unter anderem von den Nutzern selbst. Die Kampagne ist mittlerweile über die persischsprachige virtuelle Welt hinausgewachsen und in den Fokus der internationalen Medien gerückt. Nicht selten wurde über die verschiedenen Aktionen international berichtet. Die Stimme der iranischen Frauen und ihrer männlichen Unterstützer, ihre Forderungen und Interessen haben somit die angestrebte Aufmerksamkeit erreicht.
Die größte Bestätigung für ihre Arbeit bekäme sie aber, wenn Frauen aus dem Iran ihr schreiben und voller Stolz von ihren Männern erzählten, die sich für die Rechte der Frauen einsetzten, so Alinejad.
Iman Aslani