Christiane F. meets Rashid A.
Rashid A., der Hauptcharakter von Güner Yasemin Balcis "Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A.", wächst als Sohn palästinensisch-libanesischer Flüchtlinge im Rollbergviertel von Berlin-Neukölln auf und steht damit exemplarisch für eine "gescheiterte" Generation von Rütli-Schule und Co.
Schon als kleiner Junge merkt er, dass bei ihm zu Hause vieles anders ist als in anderen Familien. Die deutschen Kinder, die häufig selbst aus Problemfamilien stammen, sind für ihn eher ein abschreckendes Beispiel, zumal es in seinem Umkreis als "haram" gilt, sich mit Deutschen zu vergleichen.
In der Trostlosigkeit einer Umgebung, in der Flüchtlinge ohne Arbeitserlaubnis in die Kriminalität abrutschen, ist der Weg für Kinder wie Rashid fast schon vorgezeichnet, zumal auch der prügelnde Vater keine Vorbildfunktion einnimmt. Am Ende der Grundschulzeit überreicht die Lehrerin Rashid A. das Zeugnis – mit der Bemerkung, dass er mit diesen Noten wohl höchstens in einer Dönerbude werde arbeiten können.
Fehlendes Gewissen
Im Alter von zehn Jahren klaut Rashid bereits seine erste Tüte Haribo in einem Drogeriemarkt. Über Kleinkriminalität, Quälereien und Körperverletzung gerät er zunehmend in das Netz der organisierten Banden und wird zu ihrem Handlanger und sogar Anführer im Stadtviertel.
Schließlich bricht er die Schule ab und verbringt seine Zeit damit, Schwächere zu malträtieren, tauscht Gewalt- und Sexvideos mit seinen Freunden aus und vergreift sich an Mädchen. Im Viertel wird er als einer gefeiert, der Geld und Macht hat, man sieht zu ihm auf und hört auf ihn. Prügelnd und pöbelnd zieht er durch Berlin und schreckt vor keiner Schandtat zurück – Gewissen scheint ihm zu fehlen.
Zunächst ganz der Held rutscht Rashid durch Drogen und Lügen, in die er sich verstrickt, langsam vom Täter in die Rolle des "Opfers". Er endet im Gefängnis und wird in die Türkei abgeschoben – ein Land, das er noch nie gesehen hat, dessen Sprache er nicht spricht und in dem er plötzlich als "der Deutsche" wahrgenommen wird. Aber auch dort scheitert er kläglich.
Ohne Zukunftsperspektive
Güner Yasemin Balci, die selbst im Berliner Rollbergviertel im Osten Neuköllns aufwuchs und später dort als Sozialarbeiterin tätig war, ist selbst ein Beispiel dafür, dass man es schaffen kann, sich aus dieser Lage zu befreien. Dies führt sie vor allem auf ihre eigene Familie zurück, in der Bildung und Integration wichtig waren. Allerdings hat sie in ihrem Wohnviertel auch viele Jugendliche scheitern sehen, mit denen sie aufwuchs.
Balci beschreibt in ihrem leicht lesbaren Buch die wahre Geschichte eines Neuköllner Jugendlichen. Rashid A. verbindet in seiner Person aber die Erlebnisse mehrerer Menschen, die die Autorin während ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin in Neukölln kennen gelernt hat.
Als Leser ist man sprachlos vor so viel unmotivierter Gewalt, vor so viel Wut und auch vor so viel fehlendem Respekt. Man ist erstaunt vor dem akribisch geregelten Leben außerhalb der Regeln. Man möchte eingreifen, am liebsten das Rollbergviertel "schließen", um den dort lebenden Menschen woanders eine Perspektive zu eröffnen – denn Neukölln steht heute nahezu als Inbegriff für fehlende Zukunftsaussichten.
Den Versuchen der "Gutmenschen", den Sozialarbeitern, stellt Balci eine denkbar schlechte Note aus: Die Jugendlichen leben nach ihren eigenen Regeln, die die Sozialarbeiter oft nicht gänzlich durchschauen, oft werden sie an der Nase herumgeführt, und müssen dem Treiben der Jugendlichen oft ohnmächtig zusehen. Die Gewalt ist ständig spürbar.
Doch einen Ansatz, wie man die Situation ändern könnte, bietet auch die Autorin nicht. Entweder ist sie selbst ratlos, oder sie möchte den Leser zum Nachdenken bewegen.
Angst, Verständnis, Mitleid?
Unweigerlich kommt einem so die Frage "nach dem Huhn oder dem Ei" in den Sinn: Was war zuerst da? Die Ablehnung mancher Deutschen gegen die Migranten, von denen man dachte, dass sie nicht für immer bleiben? Oder der Unwille mancher Einwanderer, sich gesellschaftlich anzupassen und zu integrieren?
Klar ist, dass die Kinder der ersten Einwanderergeneration, in diesem Spannungsfeld lebten und dies auch heute noch tun. Rashid A. ist ein klassisches Beispiel dafür: Er will nicht sein "wie die Deutschen", doch er ist auch nicht so, wie seine Eltern, deren Welt ihm häufig ebenso fremd erscheint.
Am Schluss der Lektüre des Buches steht man – angesichts dieser oft beschworenen "Parallel-Gesellschaft" – zwischen Ratlosigkeit und Verständnis, ja sogar Mitleid für viele jugendliche Migranten, die sich in einer schwierigen Situation befinden.
"Arabboy" ist, so reißerisch Titel und Klappentext auch klingen mögen, ein Buch, das viele Fragen stellt. Es ist ein Buch, das aufrüttelt, einen aber auch hilflos zurück lässt. Ob die Lektüre etwas an der Einstellung des Lesers ändern kann, bleibt offen. Aber vielleicht ist genau das auch die Intention der Autorin, wenn sie zum Ausdruck bringt, dass rasche Lösungen manchmal nicht so einfach sind.
Christiane F.s Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" hat wachgerüttelt, da es eine bis dahin gesellschaftlich meist ausgeblendete Realität ungeschminkt wiedergab. Das Buch hat einer bestimmten Szene einen Namen und ein Gesicht gegeben, vor allem aber eine Geschichte – und ein Stück dazu beigetragen, dass sich dann tatsächlich etwas geändert hat. Vielleicht kann das eines Tages auch "Arabboy".
Hanna Labonté
© Qantara.de 2009
"Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A." von Güner Yasemin Balci erscheint am 09.09.2008 im S. Fischer Verlag und kostet 14,90 Euro.
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