Ganz unten angekommen
"Das haben die Ratten gemacht", sagt der libysche Regierungsbeamte ungefragt zu den ausländischen Journalisten, die er gerade zu einer ausgebrannten Polizeistation in der Stadt az-Zawiya, 40 Kilometer westlich von Tripolis gebracht hat.
Polizei- und Geheimdienstquartiere, die sich vor drei Monaten in schwarze Ruinen verwandelt haben, sind in ganz Libyen zu besichtigen. Nur unterscheidet sich die Deutung der Ereignisse, die die Zerstörung verursachten, je nach Gebiet und Gesprächspartner. Handelt es sich um eine Stadt wie az-Zawiya, die im Machtbereich Gaddafis liegt, so sind, wenn es an die Nennung der Schuldigen geht, rasch Metaphern aus der Tierwelt zur Hand, ganz so wie es der Oberst in seinen jüngsten Reden vorgegeben hat.
Ratten allerorten
Die Aufständischen sind demnach Ratten, entweder von Frankreich und den USA bezahlte oder al-Qaida-Ratten. Aber ganz sicher eines von beiden. Sie wollten die "Volksmassenrepublik" ("Jamahiriyya") zersetzen. Aber ihr destruktives Werk sei gestoppt worden.
Sobald ausländische Journalisten vor einem Panorama der Zerstörung wie dem zentralen Platz von az-Zawiya auftauchen, sammelt sich rasch ein Grüppchen jüngerer und älterer Libyer, die unermüdlich den Slogan der Stunde skandieren: "Allah, Muammar, Libyen – mehr nicht." Nicht nur politisch, auch rhetorisch, ist das Rumpf-Libyen Muammar al-Gaddafis ganz unten angekommen.
In den Gebieten hingegen, in denen Gaddafi nach dem landesweiten Aufstand Mitte Februar seine Macht nicht wieder etablieren konnte, also im gesamten Osten, in der Hafenstadt Misrata und im Nafusa-Gebirge nahe der Grenze zu Tunesien, geht die Geschichte der ausgebrannten Polizeistationen anders.
Dort gelten sie als Symbole der zu Ende gegangenen Tyrannenherrschaft ("zhulm at-taghiya"). In Städten wie Tubruq oder Nalut führen Aufständische mit geschulterter Kalaschnikow die ausländischen Journalisten durch die Brandruinen, zeigen die ehemaligen Folterkammern, berichten von Racheakten an den Polizeichefs und der Erbeutung von Waffen.
Ein tief gespaltenes Land
Libyen ist ein tief gespaltenes Land und solange Gaddafi sich in Tripolis an der Macht hält, wird es seine Einheit nicht wiedererlangen. Spätestens seitdem die französische Luftwaffe die Rückeroberung der östlichen Rebellenhochburg Benghazi durch Gaddafis Truppen mit energischen Schlägen verhindert und der UN-Sicherheitsrat die NATO ermächtigt hat, Zivilisten vor den Angriffen Gaddafis mit militärischen Mitteln zu schützen, dämmert dem Despoten genau dieses.
Inzwischen hat er sich zum Ziel gesetzt, seine Herrschaft über Restlibyen, einschließlich der Ölhäfen Brega und Ras Lanuf, zu sichern. Offenbar sollen Zintan und Misrata auch dazugehören, weshalb er die Belagerung der beiden westlichen Städte mit immer rabiateren Methoden, zum Beispiel der Bombardierung der Treibstofftanks von Misrata und dem Raketenbeschuss des Krankenhauses von Zintan, fortsetzt.
Natürlich fällt es einem Führer, dem "Größe" von Anbeginn seiner Herrschaft das liebste und wichtigste Attribut war, schwer, ein solches Minimalziel nach außen zu vertreten. Er bereitet daher das Publikum in seinem Einzugsgebiet auf seine Art darauf vor. Auf Stammesversammlungen in Tripolis, bei Kundgebungen vor dem Regierungssitz "Bab al-Aziziya" und im Staatsfernsehen lässt Gaddafi den "imperialistischen, kreuzzüglerischen Teilungsplan für Libyen" verdammen.
Der "König der Könige Afrikas" trichtert seinen verbliebenen Untertanen ein, dass die internationale Streitmacht die Teilung Libyens beabsichtigt. So kann er seine Strategie des Machterhalts als gehässigen Plan der intervenierenden Staatengemeinschaft verkaufen.
Vorbild Saddam
Realpolitisch hat Gaddafi recht erfolgreiche Vorbilder: Saddam Hussein hielt sich als Diktator über den Rumpf-Irak trotz Flugverbotszone und scharfer Sanktionen immerhin zwölf Jahre. Omar al-Bashir, einst Alleinherrscher über das größte Territorium Afrikas, hat Darfur de facto und den Südsudan de jure aufgeben müssen.
In Khartum behält er die uneingeschränkte Macht – trotz internationalen Haftbefehls. Und wirtschaftlich hat sich Bashir durch enge Anbindung an China, in geringerem Umfang an Russland und den Iran, vom Westen unabhängig gemacht. Wird Gaddafi dasselbe Kunststück in seinem Restlibyen hinbekommen?
Vieles spricht dagegen. Die Aufständischen kämpfen erbittert in Zintan, Misrata und an anderen Fronten des Krieges. Sie wollen das ganze Land von Gaddafis Herrschaft befreien. Ihr Kampf hat viel mit Rache zu tun. Sie wollen sich an Gaddafi für dessen blutige Reaktion auf die zunächst gewaltlosen Antiregierungsproteste vor drei Monaten rächen.
Weder im Osten, der "Cyrenaika", noch im Nafusa-Gebirge, das bis vor ihrer Massenflucht nach Tunesien mehrheitlich von Amazigh bewohnt war, gibt es separatistische Bestrebungen. Die Aufständischen wollen die Einheit des Landes, nur eben ohne Gaddafi und seine Söhne.
Auch die NATO schmälert mit ihren Luftangriffen und der Seeblockade Gaddafis Aussichten, an der Macht zu bleiben. Das Bündnis ist seit Jahren auf der Sinnsuche, ergebnislos. Gerade im Libyenkrieg könnte nun der Groschen fallen. Die UN-Resolution 1973 rechtfertigt den NATO-Einsatz mit der Notwendigkeit, Zivilisten zu schützen.
Krieg gegen das eigene Volk
Mitte März stellte sich diese Aufgabe dringend in Benghazi und seit drei Monaten stellt sie sich ununterbrochen in Misrata und im Nafusa-Gebirge. Gaddafi führt dort Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Der Internationale Strafgerichtshof verdächtigt den Machthaber deshalb, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Insofern unterscheiden sich Gründe und Ausrichtung des Libyeneinsatzes der internationalen Streitkräfte von den Kriegen im Irak und in Afghanistan.
Im Irak führten die USA und ihre "Koalition der Willigen" einen klassischen Eroberungskrieg zur Ausweitung des strategischen Einflusses im Mittleren Osten und zur Sicherung wirtschaftlicher Ressourcen. Begründet wurde der Krieg mit Lügen, nämlich mit angeblichen Massenvernichtungswaffen in der Hand Saddam Husseins.
In Afghanistan führen USA und NATO den "Krieg gegen den Terror". Die katastrophale Bilanz nach zehn Jahren einerseits und die Kommandoaktion, bei der Osama Bin Laden vor zwei Wochen getötet wurde, andererseits legen nahe: Organisationen wie al-Qaida lassen sich nicht mit Krieg bekämpfen. Geeigneter sind Polizei- und Geheimdienstarbeit sowie gezielte Operationen wie die von Abbottabad. Das galt auch schon im Jahre 2001.
Demokratische Perspektiven für Libyen
Wenn sich die NATO-Staaten diese Zusammenhänge klar machen – für Deutschland ist es dabei wohl zu spät – kann das Bündnis in Libyen sogar wieder eine Bestimmung und einen Seinszweck finden. Und wenn es ihr glaubhaft gelingt, die Zivilbevölkerung vor "einem der letzten großen Schurken des 20. Jahrhunderts" (Stefan Weidner) zu schützen und indirekt, ohne das Land zu besetzen, beim Übergang zu einem anderen politischen System zu helfen, kann die NATO vielleicht sogar verloren gegangene Glaubwürdigkeit in der arabischen Welt zurückgewinnen. All dies dürfte Motivation genug für eine hartnäckige Fortsetzung des internationalen Einsatzes sein.
Gaddafis Aussichten sind also schlecht. Sind die Chancen auf eine demokratische, rechtsstaatliche Zukunft deswegen gut? Nicht unbedingt. Je länger Krieg und Spaltung des Landes andauern, desto mehr tritt der ursprünglich zivile Charakter der Proteste in den Hintergrund und desto mehr wird bei dieser Revolution die Macht aus den Gewehrläufen kommen.
Es bleibt zu hoffen, dass die Regimegegner, die bei der Gründung des Nationalrats für die Übergangszeit Ende Februar in Benghazi die Federführung hatten, ihren Einfluss auf die Gestaltung der politischen Zukunft Libyens bewahren und steigern werden.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2011
Stefan Buchen ist derzeit als ARD-Fernsehkorrespondent in Libyen tätig.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de