Israels Angriff lässt Rafahs Bewohner verzweifeln
Die spontane Freude über eine mögliche Waffenruhe hielt auf den Straßen des Gazastreifens nicht lange an. Kurz nachdem die Hamas am Montagabend (06.05.) bekanntgegeben hatte, dass sie ein von Ägypten und Katar vorgeschlagenes Abkommen für eine Feuerpause akzeptiert, wurden Explosionen im östlichen Teil von Rafah gemeldet. Für diesen Bereich hatte die israelische Armee am Montagmorgen die vorläufige Evakuierung angeordnet. Am späten Montagabend erklärte das Büro des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, dass das Abkommen nicht den Forderungen Israels entspreche und dass das Kriegskabinett der Fortsetzung der Operation in Rafah zugestimmt habe.
Regierungsquellen sagten laut israelischen Medien, die Hamas, die von den USA, der EU und anderen als terroristische Vereinigung eingestuft wird, hätte einem anderen Vorschlag zugestimmt als dem, den Israel zuletzt indirekt mit Katar und Ägypten ausgehandelt hatte. Dennoch wolle Israel eine Delegation entsenden, um die indirekten Gespräche mit den Vermittlern aus Ägypten und Katar fortzusetzen.
Wo sollen wir hingehen?
Am Dienstagmorgen bestätigte das israelische Militär, dass die israelischen Truppen eine "gezielte" Operation in einigen Gebieten im Osten Rafahs begonnen hätten. Zudem teilte das Militär mit, es habe die palästinensische Seite des Rafah-Grenzübergangs zu Ägypten eingenommen - und damit den einzigen Übergang, über den Palästinenser das Gebiet bis dahin verlassen konnten.
Der Grenzübergang Rafah ist auch eine der wichtigsten Passagen für Hilfsgüter. Nach der Einnahme blieb der Übergang zunächst geschlossen, ebenso wie der Grenzübergang Kerem Schalom, wo am Sonntag vier israelische Soldaten nach einem Mörsergranaten-Angriff der Hamas getötet worden waren.
Viele Menschen in Rafah reagieren verzweifelt auf die Entwicklung. Ghada Rafiq, 30, deren Familie auf dem Weg nach Chan Junis war, hatte gehofft, dass eine volle israelische Bodeninvasion noch abgewendet werden könnte.
"Der Gedanke, wieder in ein Zelt ohne fließendes Wasser und mit nur minimaler Versorgung zurückzukehren, ist beängstigend", sagt sie der Deutschen Welle (DW) am Telefon. "Wo sollen wir hingehen? Was sollen wir tun? Wir wünschen uns verzweifelt einen Waffenstillstand. Ich bete zu Gott, dass es so schnell wie möglich dazu kommt, und dafür, dass die Armee nicht nach Rafah einrückt."
Tausende machen sich auf den Weg
Der Montag hatte bereits mit verheerenden Nachrichten für tausende Menschen begonnen, die in den östlichen Vierteln von Rafah wohnen oder dort während des Krieges Zuflucht gesucht haben. In den frühen Morgenstunden warf das israelische Militär Flugblätter ab und verschickte aufgezeichnete Telefonnachrichten, in denen es dazu aufforderte, sich in eine sogenannte "humanitäre Zone" in Al-Mawasi im Westen des Gazastreifens zu begeben.
Ein Militärsprecher hatte am Montagmorgen vor ausländischen Journalisten gesagt, die Evakuierung sei "begrenzt" und betreffe rund 100.000 Menschen. Sie seien aufgefordert worden, sich in diese Zone in der Nähe der Küste zu begeben.
Bald darauf begannen viele, ihre Habseligkeiten in Autos oder auf Eselskarren zu packen und die Gegend zu verlassen. Andere machten sich an diesem, für Mai ungewöhnlich kalten und regnerischen, Tag nur mit ein paar Taschen auf den Weg. Wieder einmal waren Tausende unterwegs, erschöpft von den monatelangen Bombardierungen und Vertreibungen.
Odyssee durch die Flüchtlingslager
Ghada Rafiq ist eine von ihnen. Sie wurde am Montagmorgen vom Klingeln ihres Mobiltelefons geweckt. "Es war eine aufgezeichnete Nachricht der israelischen Armee, die uns aufforderte, den Osten Rafahs zu verlassen", sagt sie. Die junge Palästinenserin stammt aus dem nördlichen Gazastreifen und musste wie viele andere in den vergangenen sieben Monaten bereits mehrmals von einem Ort zum nächsten ziehen, nachdem das israelische Militär die Menschen aufgefordert hatte, den nördlichen Gazastreifen zu verlassen.
"Zuerst waren wir im Flüchtlingslager Dschabalia, dann gingen wir in das Flüchtlingslager Nuseirat, dann nach Deir al-Balah (im Zentrum des Gazastreifens) und schließlich nach Rafah."
Die Nacht zuvor sei wegen der intensiven Bombardierung schwierig gewesen. "Seit dem frühen Morgen haben wir Artilleriebeschuss im Osten gehört und einige Gegenden wurden aus der Luft bombardiert", sagt Ghada Rafiq, die zusammen mit ihren vier Geschwistern und ihren Eltern unterwegs ist. "Wir haben beschlossen, nicht zu warten und nach Chan Junis zu gehen. Wir haben ein Zelt aus unserer Zeit in Deir al-Balah mitgebracht. Unsere Angst und Sorge sind groß vor dem, was uns erwartet."
Nach Angaben der Hamas wurden in der Nacht von Sonntag und Montag in Rafah mindestens 22 Menschen getötet. Das von der Hamas geführte Gesundheitsministerium beziffert die Zahl der Toten seit Beginn des Krieges auf mehr als 34.500 Menschen. Nach den Hamas-Terroranschlägen auf Gemeinden im Süden Israels am 7. Oktober hatte Israel den Krieg gegen die Hamas in Gaza begonnen.
"Gezielte Militäroperationen" oder Bodenoffensive?
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat wiederholt erklärt, dass er "mit oder ohne" eine Einigung über eine Feuerpause und die Freilassung zumindest einiger der 128 verbleibenden Geiseln, die am 7. Oktober nach Gaza entführt wurden, nicht von einer umfassenden Bodenoffensive in Rafah absehen will.
Arabische und westliche Länder, darunter die Vereinigten Staaten als Israels engstem Verbündeten, warnen seit Wochen vor einer solchen Militäroffensive, da sie zu vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen könnte. Israel beschuldigt die Hamas, sich hinter Zivilisten zu verschanzen und erklärte, das Militär müsse in Rafah einmarschieren, um die verbleibenden Hamas-Einheiten zu zerstören und den Krieg zu gewinnen.
Mehr als eine Million Menschen haben in den vergangenen sieben Monaten in der Grenzstadt im Süden des Gazastreifens Zuflucht gesucht. Viele sagen, sie wüssten nicht mehr, wohin sie noch gehen sollen, um sicher zu sein - auch wenn die israelische Armee erklärte, sie habe eine "humanitäre Zone" eingerichtet. Es bleibt auch unklar, was mit denen geschieht, die nicht einfach gehen können: Ältere Menschen, Kranke oder solche, die nicht gehen wollen, weil sie es nicht für sicher genug halten.
Fadel Qandeel, 54, stammt aus Rafah und hat sich entschieden, in seinem Haus zu bleiben, obwohl seine Familie in der Nähe eines der Evakuierungsgebiete wohnt. "Der heutige Tag ist im wahrsten Sinne des Wortes beängstigend. Trotz früherer Drohungen mit einer Militäroperation in Rafah ist die Atmosphäre seit heute Morgen eine andere", sagt Qandeel telefonisch der DW. "Als in Rafah Flugblätter zur Evakuierung abgeworfen wurden, tat es weh, all die Szenen der Menschen mitanzusehen, die ihre wenigen Habseligkeiten trugen und ihr Zuhause verlassen mussten."
Der Vater von sieben Kindern sagt, er wisse einfach nicht, wohin er mit seiner großen Familie gehen solle. Er hofft, dass doch noch eine Waffenruhe vereinbart wird, aber das ständige Auf und Ab der Verhandlungen sei extrem schwierig auszuhalten. "Die positiven Nachrichten über eine Waffenruhe haben meine Angst ein wenig gemildert, aber ich bin nicht sicher, ob es wirklich dazu kommen wird. Ich bin nicht wirklich optimistisch, aber ich hoffe, ich werde eines Besseren belehrt."
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