Im Dunst der Erinnerung
Den kürzlich von Samuel Wilder aus dem Arabischen ins Englische übersetzten Text „Describing the Past“ von Ghassan Zaqtan könnte man eine halb autobiografische Erzählung nennen, oder eine Betrachtung über das Wesen der Erinnerung, aber im Grunde gibt es kein Genre, das die Dimensionen dieses Buches zutreffend fasst. Der 84 Seiten starke Band erinnert in seinen traumartigen Qualitäten an Kazuo Ishiguros "Die Ungetrösteten"; an die Stelle von Traumlogik tritt hier jedoch eine Gedächtnislogik.
Da es um Erinnerungen geht, handelt "Describing the Past" eher von Orten als von Bewegungen: Aus dem Dunkel der Erinnerung beschwört Zaqtan die Häuser, Menschen und Gerüche aus der Jugendzeit seiner Helden herauf. Dann jedoch bettet er sie nicht in Abenteuergeschichten ein, sondern lässt den Leser sie umkreisen. Er hält immer wieder kurz inne und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den einen oder anderen Aspekt. Dann löst er sich wieder davon und wir bewegen uns weiter. Einmal sprechen zwei seiner Hauptfiguren über die dritte: "Sie bleibt dort, in der Luft schwebend, zwischen seiner Stimme und dem dahingleitenden Fluss[.]"
Der Schauplatz hat keinen Namen, aber er ähnelt der Umgebung des Flüchtlingslagers Karame, östlich des Jordan, in das Zaqtans Familie zog, als der Autor sieben Jahre alt war. Wie Proust'sche Madeleines tauchen im Text zahlreiche auslösende Momente auf, die schemenhaft Ungreifbares heraufbeschwören, wenn die Protagonisten am Sharia-Fluss – ein anderer Name für den Jordan – entlanggehen: das Schilf, die Tamarisken, die Amseln, das Rauschen des Wassers.
Zaqtans Buch ist eine Momentaufnahme aus der Jugendzeit, aber es handelt nicht vom Erwachsenwerden. Eine Entwicklung findet nicht statt. Vergangenheit und Gegenwart sind, wie in der Quantenphysik, miteinander verschränkt. Der Blick in die Vergangenheit verändert die Gegenwart, und diese wiederum verändert die Vergangenheit.
Die Frau, der Iraker und der Christ
Keiner der drei zentralen Charaktere hat einen Eigennamen. Die drei Erzähler heißen lediglich "Ich", "Er" und "Sie". Jeder von ihnen beschreibt das eigene Leben und das der beiden anderen. "Sie", die namenlose junge Frau, lebt mit ihrem ruhigen, älteren Ehemann und ihrer alten Mutter zusammen, mit denen sie in einem Zimmer schläft. Diese "Sie" wird von zwei Jungen bewundert, "Ich" und "Er". Die Jungen werden aber auch "der Christ" und "der Iraker" genannt, obwohl keiner von beiden ein Christ oder Iraker ist.
Ihre Spitznamen weisen darauf hin, wie unsere Lebensgeschichten unsere Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft prägen können. Und sie demonstrieren, dass wir diese Lebensgeschichten nicht individuell gestalten. Sie werden kollektiv erzeugt.
"Der Iraker" beispielsweise heißt so, weil sein ältester Onkel "ständig darüber sprach, welche Rolle er gegen Ende des Krieges von 1948 als Unterstützer der irakischen Armee nördlich der West Bank spielte". Der Krieg von 1948 war eine Geschichte von Verlusten und Schmach. Doch inmitten des Geschehens gab es fünf oder sechs irakische Regimenter, die hunderte von Küstenstädten heldenhaft verteidigten. Der Onkel des "Irakers" hatte einem der Artillerie-Regimenter einige Wochen lang als Führer gedient.
Nach Auskunft des "Irakers" gibt es viele Gründe, warum man den Erzählungen seines Onkels nicht trauen sollte: "Es gab große, sich teilweise überschneidende Lücken in seiner Geschichte". Und dennoch: "Das starke Bedürfnis der Zuhörer einerseits, den verlorenen Krieg in winzige Heldentaten zu zerlegen, deren jede einen privaten Sieg beinhaltete, und das umwerfende Schauspieltalent meines Onkels und sein effektvolles Erzählen andererseits verwandelten diese zweifelhaften Äußerungen eines Einzelnen in eine tief verwurzelte, lebendige Wahrheit."
Um die Glaubwürdigkeit seiner Geschichten zu untermauern, reichert der Onkel seine Berichte mit immer mehr irakischen Dialektausdrücken an. Er hört irakische Musik und Nachrichtensendungen, legt sich eine neue, imaginäre Herkunft zu und schließt Freundschaft mit Sattelzug-Fahrern, die aus dem Irak kommen und ihm Geschenke aus ihrem Land mitbringen. Er äußert sogar den Wunsch, in den Irak zurückzukehren.
Sehnsucht nach kleinen Heldentaten
"Er hatte", sagt der Neffe, "ganz offensichtlich den einen siegreichen Moment dieses aussichtslosen Krieges ausgewählt und beschlossen, dass er daran beteiligt gewesen war – vielleicht weil die Niederlage so plötzlich kam und ihn mehr belastete, als er erwartet hatte und bewältigen konnte."
Die Sehnsucht nach kleinen Heldentaten, sowohl beim Onkel als auch bei den Zuhörern, verändert mehr als die Vergangenheit und Gegenwart des Onkels. Sie wirkt sich auch auf das Realitätsverständnis seiner Verwandtschaft aus. Und so wird aus seinem Neffen "der Iraker".
Dasselbe gilt für den Christen. Er hat den Spitznamen nicht bekommen, weil er ein Christ ist, sondern weil seine Mutter Christin war und sein muslimischer Vater ein Kreuz aus Olivenholz trägt, das seine Frau ihm noch vor 1948 geschenkt hatte. Das Kreuz verbindet ihn mit dem Ort, der ihm inzwischen verwehrt ist.
Samuel Wilders ausgezeichnete Übersetzung enthält kein einzigen trockenen Satz, und Zaqtans Text – ob man ihn nun als Erzählung, Gedicht oder philosophische Betrachtung bezeichnen mag – verdient es, langsam gelesen zu werden, so dass man jede Formulierung auskosten kann. Obwohl die Geschichte in Palästina spielt, sind ihre wichtigsten Leitmotive weder Verlust noch Flucht. Sie handelt, und das wird auch so thematisiert, von der Konstruktion der Vergangenheit. Und die Art, wie das Geschichtenerzählen das Leben der wenigen Charaktere immer wieder neu prägt, spiegelt eine praktisch universelle Erfahrung.
Marcia Lynx Qualey
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