Zwischen Realität und Mythos
Am 3. März 1924 verabschiedete die türkische Nationalversammlung mit großer Mehrheit ein Gesetz, in dessen erstem Artikel es nüchtern und unzweideutig heißt: "Der Kalif ist abgesetzt. Das Amt des Kalifen ist abgeschafft, da das Kalifat im Sinne und Begriff von Regierung und Republik wesenhaft enthalten ist."
Im Untergang des osmanischen Kalifats sahen damals einige arabische Nationalisten die Chance, wieder ein eigenes, arabisches Kalifat zu errichten. Wenige Tage nach dem Beschluss der türkischen Nationalversammlung rief sich Hussein ibn Ali, König des Hedschas, zum Kalifen aus – aber außerhalb seines eigenen Clans verfing die Idee nicht. Ein Krieg auf der arabischen Halbinsel führte noch im selben Jahr zu seiner Abdankung. Sein Sohn Ali wiederum versuchte, die militärische Unterstützung des ägyptischen Königs Fuad I. zu gewinnen, indem er ihm das Kalifenamt anbot. Fuad I. verzichtete. Neuer König des Hedschas wurde Abdalaziz Ibn Saud, der später das Königreich Saudi-Arabien proklamierte. Kalif wollte auch er nicht werden.
Zwei Konferenzen muslimischer Religionsgelehrter in Kairo und in Mekka stellten 1926 dann letzte verzweifelte Versuche dar, die Institution des Kalifats zu retten. Sie scheiterten nicht zuletzt daran, dass sich die arabische Öffentlichkeit für die Kalifatsfrage schlicht nicht interessierte. Die Ordnung der Region nach nationalstaatlichen Kriterien war längst unumkehrbar. Eine bürgerliche, säkulare Kultur hatte sich durchgesetzt.
Skrupelloser Terroristenführer oder putziger Märchenkalif?
Aber nicht nur säkulare Intellektuelle, auch muslimische Theologen sprachen sich gegen eine erneute Einführung des Kalifats aus. Der Ägypter Ali Abdalraziq argumentierte 1925 in seinem Buch "Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft", weder der Koran noch die Überlieferungen von Muhammad begründeten das Kalifat. Die politische Tätigkeit des Propheten sei den Umständen seiner Zeit geschuldet und hätte nichts mit dem Wesen des Islam zu tun. Der Orientalist Franz Taeschner formulierte in den 1944 in Leipzig erschienenen "Beiträgen zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft" lapidar, dass "der Kalifatsgedanke heute wohl als erloschen gelten" könne.
Das war einmal, denn in jüngster Zeit erlebt der Kalifatsgedanke eine überraschende Renaissance. Die "Boko Haram" in Nigeria erklärte im August 2014 den Nordosten des Landes zum Kalifat. Kurz zuvor hatte sich Abu Bakr al-Baghdadi zum Kalifen des "Islamischen Staates" ausgerufen.
Offenbar entfalten der Titel und die mit ihm verbundene Machtfülle und historische Aura bis heute im Osten wie im Westen eine gewisse Faszination. Das Spektrum der mit dem Titel verbundenen Assoziationen könnte breiter kaum sein und reicht vom skrupellosen Terroristenführer bis zum putzigen Märchenkalifen.
Harun al-Raschid, der zwischen 786 und 809 von Bagdad aus das Abbasidenreich regierte, wurde durch seine Rolle in den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht zum Inbild des Kalifen schlechthin. Als Musterexemplar des gütigen und weisen orientalischen Herrschers steht er für das Kalifat im Zenit seiner Macht. Tatsächlich sind die Erzählungen Ausdruck der nostalgischen Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter, das zur Zeit der Entstehung von Tausendundeiner Nacht bereits untergegangenen war. Aus dem historischen Kalifen wurde eine märchenhafte Figur, ein geselliger Hedonist und Liebhaber abendlicher Trinkgelage, obwohl der historische Kalif ein eher frommer und ernster Zeitgenosse gewesen sein soll, der sich zudem erfolglos mit einem Gegenkalifen herumschlug. Am Beispiel Harun al-Raschids zeigt sich, wie bei den Kalifen schon immer historische Realität und Mythos auseinanderfielen.
Verklärung der Vergangenheit
Wenn es eine Konstante in der Geschichte des Kalifats gibt, dann ist es die hier modellhaft auftretende Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, gekoppelt mit der tiefen Überzeugung, dass früher alles besser war. Die Geschichte des Kalifats ist eine Geschichte der rückwärtsgewandten Utopie. Die heutigen Möchtegern-Kalifen stehen in dieser Tradition der Vergangenheitsverklärung, die aus einer unheilvollen Verbindung von Legitimationsdruck und Sehnsucht nach den vermeintlich reinen Ursprüngen der Religion entstanden ist. Gegen diese nostalgische Verzerrung der Vergangenheit könnte ein Blick auf die Geschichte helfen. Das Idealbild von Kontinuität und Legitimität würde dann schnell einstürzen.
Der Tübinger Islamwissenschaftler Heinz Halm hat sich mit seiner Forschung zum Fatimidenkalifat in Ägypten um historische Genauigkeit verdient gemacht und die Grundlagen für eine solche historische Entmythologisierung geliefert.
Ausführliche Analysen zum Aufstieg und zur Herrschaft der Fatimiden in Ägypten zwischen 973 und 1074 hat Halm bereits in zwei früheren Werken vorgelegt. Seit 2014 liegt auch der Band über Kalifen und Assassinen in Ägypten und im Vorderen Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge (1074-1171) vor. Damit hat Halm die Kärrnerarbeit eines Vierteljahrhunderts abgeschlossen, indem er eine beeindruckende Fülle arabischer, persischer und lateinischer Quellen ausgewertet hat.
Die von Halm behandelte Epoche verspricht besonders interessante Geschichten: Es ist die Zeit der Kreuzzüge und der auch im Abendland über die Jahrhunderte mystifizierten Assassinen, die heute als Erfinder des politisch motivierten Terroranschlags gelten. Vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse in Syrien und im Irak greift man mit großen Erwartungen zu dem Band – und wird böse enttäuscht.
Sicher, man kann darüber streiten, ob es legitim ist, Parallelen zur heutigen, religiös begründeten Gewaltherrschaft durch den sogenannten "Islamischen Staat" in der Region zu ziehen. Dem Historiker mag sich das verbieten. Auch der völlige Verzicht auf erzählerische Elemente, auf Spannungsbögen, ja auf noch den kleinsten Ansatz von Geschichten, mag Heinz Halms Berufsethos als Historiker geschuldet sein, ebenso wie seine sprachlich-stilistische Zurückhaltung. Für den Leser ist das jedoch eine Zumutung.
Da sich der Autor eng an den Quellen entlang hangelt, dabei penibel Detail an Detail reiht, Name auf Name, Schlacht auf Schlacht und Palastintrige auf Palastintrige folgen lässt, ohne ein einziges Mal die Tonlage zu ändern, ohne einmal auf Abstand zu gehen und eine Analyse oder Einordnung zu wagen, ist das alles leider von unvorstellbar quälender Langeweile. Heinz Halm hat Gold zu Stroh gemacht.
Andreas Pflitsch
© Qantara.de 2016
Heinz Halm: "Kalifen und Assassinen. Ägypten und der Vordere Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge (1074-1171)", München, Beck-Verlag 2014, 431 Seiten