Über das Unaussprechliche reden
"Ich hatte so große Angst auf dem Boot. Ich hatte meinen kleinen Bruder auf dem Arm, auch als wir ins Wasser fielen. Ich hielt ihn in meinen Armen und weinte. Ich betete zu Gott, dass ich ins Paradies komme. Ich dachte, ich würde sterben. Der Tod war so nahe." Farah ist zehn Jahre alt. Sie floh zusammen mit ihrer Familie aus Syrien.
"Wir mussten während der Flucht fünf Monate lang in Bulgarien in einem Flüchtlingscamp bleiben, wo es furchtbar war. Wir wurden von den Wächtern geschlagen", erzählt Namir. Er ist zwölf Jahre alt. Seine christliche Familie lebte vor ihrer Flucht im syrischen Damaskus und wurde verfolgt. Einige Familienmitglieder wurden sogar gezwungen, zum Islam zu konvertieren. "Auf dem Weg nach Deutschland liefen wir durch einen dunklen Wald. Dort habe ich meine Schuhe verloren und meine Füße haben wegen der Äste und Stacheln geblutet. Mein Vater musste mich und meine Schwester tragen. Ich hatte Hunger und Durst."
Überlebenskampf und Todesangst
"Mein kleiner Bruder wurde während der Flucht von uns getrennt. Drei Tage lang haben wir ihn nicht gefunden. Wir haben geweint und geweint", sagt Walid. "Nidal* war traumatisiert. Er spricht nie darüber. Als wir ihn endlich drei Tage später fanden, hat er gleichzeitig geweint und gelacht - es war unbeschreiblich. Wäre es mir passiert, wäre das Okay gewesen, aber Nidal ist ein Kind", erzählt der 17-jährige Bruder.
Während der Flucht wurde Walid zum erwachsenen Mann. Alleine mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern floh er aus Syrien. Sein Vater musste zurück bleiben. "Meine Mutter bricht manchmal zusammen. Wir haben alle Albträume. Wir haben gesehen, wie Kämpfer zwei Menschen töteten, als wir eine Nacht während der Flucht auf dem Boden einer Schule verbrachten. Ich werde es nie vergessen. Meine zwei Brüder haben es auch gesehen. Manchmal scheint Nidal zu versuchen, sich selbst zu verletzen." Walids glücklichster Tag sei, wenn er seinen Vater wiedersehen könnte.
Ein Drittel aller Flüchtlinge sind Kinder
Die Erlebnisse von Farah, Namir und Walid berühren. Es sind Erfahrungen, vor denen Eltern ihre Kinder schützen möchten. Doch die Verzweiflung dieser Eltern ist groß. Sie alle haben den Wunsch, ihren Kindern eine sichere Zukunft zu ermöglichen. Laut Bundesregierung sind ein Drittel aller Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, Kinder und Jugendliche. Kinderschutzorganisationen wie "Save the Children" befürchten, dass viele Kinder grausame und traumatisierende Erfahrungen machen müssen - doch nur wenige werden darüber sprechen.
"Es ist furchbares Leid, was wir zu hören bekommen", sagt der Psychologe Andreas Mattenschlager. Als Leiter des Ulmer Projekts der psychologischen Familien- und Lebensberatung bieten er und sein Team psychotherapeutische Unterstützung für traumatisierte Flüchtlingskinder und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder und wünschen sich, wie alle Kinder, ein Gefühl von Sicherheit. Durch ihre Flucht sind sie und ihre Eltern zwar dem Leid und der Gewalt entkommen, ihre Lebenssituation ist dennoch katastrophal, weiß Mattenschlager.
Verlust der Sicherheit
"Kleine Kinder erleben dieses Gefühl der Sicherheit nicht an Orten, sondern in der Beziehung zu ihren Eltern", erklärt der Familientherapeut." Kinder haben ihre starken Eltern in der Heimat erlebt. Wenn ihre Eltern auf der Flucht ausfallen oder zurückbleiben müssen, geht ihre Sicherheit verloren." Während seiner Arbeit merkt er auch, dass betroffene Kinder unter dem hohen Erwartungsdruck der Eltern leiden. "Sie haben alles zurückgelassen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen", sagt Mattenschlager. "Die Kinder müssen in Deutschland funktionieren und wollen ihre Eltern nicht enttäuschen."
Die Erfahrungen von Krieg, Gefangenschaft und Folter in ihrer Heimat sowie die monatelange Flucht nach Europa belasten die Kinder sehr. Auch die Situation in den Flüchtlingslagern, die Diskriminierung und Isolation erhöhen die psychische Belastung. "In den Erstaufnahmelagern mit 1.500 Menschen auf engstem Raum, verbringen die Familien viele Tage und Monate. Das ist eine große Belastung", sagt Volker Mall, Inhaber des Lehrstuhls Sozialpädiatrie und Ärztlicher Direktor des Kinderzentrums München.
Keine Trauma-Therapie für Kinder geflüchteter Familien
Viele der Jungen und Mädchen leiden unter posttraumatischen Belastungs- und Anpassungsstörungen. Um die gezeichneten Kinder besser in Kindertageseinrichtungen und Schulen integrieren zu können, müsse schnell und unkompliziert ein psychotherapeutisches Angebot aufgebaut werden, meint Mall. "Unsere Strukturen sind gut. Wir haben Einrichtungen, die mit dem Problem umgehen können. Aber manche Asylanträge gehen über Jahre", sagt Mall. Erst mit einer Aufenthaltsgenehmigung werden in Deutschland psychotherapeutischen Behandlungen von den Krankenkassen gestattet.
Andreas Mattenschlager und sein Team konnten einen entscheidenden Schritt gehen. Einmal wöchentlich bietet eine Psychologin eine offene Sprechstunde in einer Ulmer Sammelunterkunft an. Das Angebot ist für Flüchtlingsfamilien kostenlos und wird von der Kirche getragen. Doch in der wenig verbleibenden Zeit Vertrauen aufzubauen, ist eine große Herausforderung, meint Andreas Mattenschlager. "Die Kinder und unbegleiteten minderjährigen Jugendlichen haben viele Beziehungsabbrüche hinter sich. Sie haben ihre Eltern verloren oder auf der Flucht Kontakt zu Personen gehabt, der auch abgebrochen wurde. In erster Linie ist für sie ein verlässlicher Ansprechpartner wichtig."
Doch die Familien seien anfangs skeptisch. Zu groß sei die Sorge, dass Gesprächsinhalte an das Ausländeramt weitergeleitet würden, berichtet Mattenschlager von seinen ersten Erfahrungen. Erst wenn Vertrauen geschaffen sei, könnten traumatisierte Kinder in einem geschützten Raum über das Unaussprechliche reden.
Sabrina Pabst
© Deutsche Welle 2015