Schwierige Kompromisssuche
In Syrien wurden in den letzten Monaten über 8.000 Menschen getötet – überwiegend durch Soldaten oder andere Sicherheitskräfte des Regimes von Präsident Baschar al-Assad.
Nach Einschätzung der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay sowie einer Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrates erfüllt das brutale Vorgehen des Assad-Regimes gegen Teile der syrischen Bevölkerung inzwischen den Straftatbestand von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Damit hätte die internationale Gemeinschaft die "Verantwortung zum Schutz" der syrischen Bürgerinnen und Bürger vor ihrer eigenen Obrigkeit.
Doch alle politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Druckmittel zur Wahrnehmung dieser Schutzverantwortung sind gescheitert. Weder die jeweils mit einer Dreiviertelmehrheit erfolgte, deutliche Verurteilung Syriens durch die UNO-Generalversammlung und den Menschenrechtsrat, noch die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen konnten Assad bewegen, die Gewalt gegen das eigene Volk zu stoppen.
Drohender Zerfall Syriens
Auch Kofi Annan, der gemeinsame Sondervermittler von UNO und Arabischer Liga, konnte Assad am letzten Wochenende nicht zum geringsten Einlenken bewegen. Mit einigen seiner Vorschläge für eine politische Lösung des Konflikts stieß Annan auch bei Teilen der Opposition auf Ablehnung – insbesondere bei ihren Vertretern im Exil. In Syrien droht jetzt ein landesweiter und langwieriger Bürgerkrieg mit schließlich weit mehr Toten als in Libyen sowie der Zerfall des Landes mit destabilisierenden Konsequenzen für die gesamte Nahostregion.
Um dieses worst case-Szenario doch noch zu verhindern, bleibt eine bislang unversuchte Optionen: eine "humanitäre Intervention" mit militärischen Mitteln im internationalen Konsens der fünf Vetomächte des Sicherheitsrates.
Viele Experten raten nach Prüfung der relevanten politischen und völkerrechtlichen Kriterien für eine "humanitäre Intervention" mit militärischen Mitteln bislang von einem solchen Unterfangen in Syrien ab. Dabei verweisen sie zu Recht auf fragwürdige oder gescheiterte Interventionen der jüngsten Vergangenheit: insbesondere den Luftkrieg der NATO gegen Serbien von 1999. Diesen Krieg führte die westliche Militärallianz am UNO-Sicherheitsrat vorbei und unter Bruch des Völkerrechts, rechtfertigte ihn aber als notwendige "humanitäre Intervention" zugunsten der Kosovo-Albaner.
Ein anderes Beispiel ist auch der Krieg der NATO geführten Militärallianz zum Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen vom vergangenen Jahr. Dieser Krieg wurde unter Missbrauch einer Resolution des Sicherheitsrates geführt, die lediglich die Einrichtung von Flugverbotszonen und den Schutz der Zivilbevölkerung vorsah.
Die politischen und völkerrechtlichen Bedenken gegen eine "humanitäre Intervention" sind tatsächlich gravierend. Diese Bedenken beziehen sich allerdings immer nur auf die politische Rahmenbedingung eines Dissenses der fünf Vetomächte im UNO-Sicherheitsrat.
Zweifellos war dieser Dissens die politische Realität in allen Fällen seit Ende des Kalten Krieges (mit Ausnahme Ruandas 1994), in denen ein Eingreifen zur Verhinderung oder Beendigung von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit zur Debatte standen. Und deshalb haben sich die Diskussionen über Handlungsmöglichkeiten angesichts schwerster Menschenrechtsverletzungen inzwischen allzu bequem und phantasielos in dieser Realität des Dissenses eingerichtet.
Im Konsens mit den fünf Vetomächten
In Syrien müsste es darum gehen, einen "humanitäre Intervention" mit militärischen Mitteln im Konsens mit den fünf Vetomächten zu beschließen und dann auch gemeinsam umzusetzen. Priorität hätte die Stationierung einer Blauhelmtruppe mit der Aufgabe, Landkorridore für die Versorgung der Bevölkerung mit überlebenswichtigen Gütern und für den Transport von Verletzten und Flüchtlingen zu sichern.
Assad würde gegen einen entsprechenden Konsensbeschluss der fünf Vetomächte vielleicht zunächst noch protestieren. Aber wenn dann tatsächlich nicht nur US-amerikanische und russische sondern möglichst auch chinesische, britische und französische Blauhelmtruppen in Syrien stationiert würden, wäre es schwer vorstellbar, dass Assads Streitkräfte gegen diese Truppen vorgehen würden.
Naive Illusionen eines Spinners? Im Herbst 1998 hieß der Spinner Alexander Verschbow, damals immerhin Botschafter der USA bei der NATO in Brüssel. Angesichts der schweren Menschenrechtsverstöße serbischer "Sicherheits"-Kräfte gegen die albanische Bevölkerung im Kosovo und der eskalierenden Gegengewalt der kosovarischen "Befreiungs"-Bewegung UCK unterbreitete Verschbow der Regierung Clinton in Washington einen detaillierten Plan für die Stationierung einer vom Sicherheitsrat mandatierten russisch-amerikanischen Blauhelmtruppe im Kosovo.
"10.000 Soldaten wären erforderlich, wenn Serbiens Präsident Milosevic einwilligt, 30.000, wenn er dagegen ist", kabelte der Botschafter damals nach Washington. Doch dort landete sein kreativer Vorschlag zur Beendigung des Blutvergießens im Kosovo im Papierkorb. Allein diese Episode widerlegt die Behauptung der NATO, ihre ab März 1999 per völkerrechtswidrigem Luftkrieg gegen Serbien geführte "humanitäre Intervention" sei die einzige Möglichkeit gewesen, die serbischen Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zu beenden.
Der Westen unter Verdacht
Von Washington bis Peking beteuern inzwischen alle an der Debatte über Syrien beteiligten Regierungen, Priorität müsse das Ende de Blutvergießens haben. Sollten diese Beteuerungen ernst gemeint sein, müsste auch eine "humanitäre Intervention" im internationalen Konsens möglich werden.
In Moskau und Peking herrscht allerdings der Verdacht vor, es ginge dem Westen und den sunnitischen Mitgliedsregierungen der Arabischen Liga nicht um die Menschenrechte in Syrien, sondern um den Sturz des Regimes Assad – und dies möglicherweise als Vorstufe für einen Krieg gegen den Iran und den Sturz des Regimes in Teheran.
Der Westen könnte einiges dafür tun, diesen Verdacht zu entkräften und damit die Chancen für ein gemeinsames Vorgehen mit Russland und China zu erhöhen, in dem er im Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf ausschließlich zu den Modalitäten einer "humanitären Intervention" vorlegt und unter Verzicht auf Verurteilungen, Sanktionsandrohungen und die Forderung nach dem Rücktritt Assads.
Doch der Resolutionsentwurf, den Deutschland und andere Staaten zur Syrien-Sitzung des Sicherheitsrates Anfang dieser Woche vorlegten, erfüllt diese Voraussetzung nicht und stieß daher erneut auf Ablehnung Russlands und Chinas.
Gelingt eine humanitäre Intervention im internationalen Konsens nicht, bleibt nur noch die Option: Assad und seinem Clan ein sicheres Exil im Ausland sowie Straffreiheit anzubieten.
Gegen diese Option spricht zwar die Überzeugung vieler politischer Beobachter und Experten, dass die Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen und ihre strafrechtliche Ahndung eine wesentliche Voraussetzung für Gerechtigkeit und Versöhnung sind und damit für dauerhaften Frieden und die innere Stabilität eines Landes. Doch angesichts des drohenden worst case-Szenarios für Syrien und seine Nachbarn wären Exil und Straffreiheit für Assad das vergleichsweise kleinere Übel.
Andreas Zumach
© Qantara.de 2012
Andreas Zumach, Jahrgang 1954, ist UNO-Korrespondent in Genf. Er ist gelernter Volkswirt, Journalist und Sozialarbeiter. Jüngste Veröffentlichung: "Die kommenden Kriege", Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de