Vom “Land für alle Araber“ zum Stabilitätsanker in Nahost

1921 als Provisorium gegründet, konnte sich Jordanien als eines der stabilsten Länder im Nahen Osten etablieren. Der integrative und flexible Ansatz von Staatsgründer Abdullah und seinen Nachfolgern hat dazu zweifellos einen Beitrag geleistet. Doch die Hundertjahrfeier des Haschemitischen Königreichs ist überschattet von einer wirtschaftlichen Krise und politischem Reformstau. Von Edmund Ratka

Von Edmund Ratka

Jordanien entsteht, wie andere Länder des Nahen Ostens auch, aus den Trümmern des Osmanischen Reiches. Nach dessen Niederlage an der Seite Deutschlands im Ersten Weltkrieg ordnet sich die Region neu. Eine Schlüsselrolle dabei spielt Großbritannien, das sich in widersprüchliche Versprechungen an seine Waffenbrüder verstrickt hat: Den Franzosen war 1916 im geheimen Sykes-Picot-Abkommen Syrien als Einflusssphäre zugeschlagen worden, den Arabern stellte London Selbstbestimmung und einen unabhängigen Staat in Aussicht.

Die Briten erkannten dabei die Führungsrolle der auf der Arabischen Halbinsel beheimateten Haschemiten an, die daraufhin einen Aufstand gegen die Osmanen anzettelten (unter Führung des Prinzen Feisal und eines schillernden britischen Verbindungsoffiziers, der als Lawrence von Arabien bekannt werden sollte). In der Balfour-Erklärung von 1917 wurde schließlich dem jüdischen Volk eine nationale Heimstätte in Palästina zugesagt.

Von Mekka nach Ma‘an

Während Kolonialminister Winston Churchill auf einer Konferenz in Kairo im März 1921 mit seinen Nahostexperten und Diplomaten berät, wie das angeschlagene britische Empire möglichst kostengünstig möglichst viel Einfluss in der Region behalten kann, schafft ein arabischer Prinz in Transjordanien Fakten. Das dünn besiedelte und von teils noch nomadischen Stämmen beherrschte Gebiet östlich des Jordan-Flusses wird dem Völkerbund-Mandat Großbritanniens für Palästina zugeschlagen. Doch die Briten zeigen zunächst wenig Interesse an Transjordanien, das 1919/1920 zum kurzlebigen Arabischen Königreich Syrien gehört.

Nachdem Frankreich Syrien unter seine Kontrolle gebracht und Prinz Feisal, der sich dort zum König hatte ausrufen lassen, aus Damaskus vertrieben hat, macht sich dessen Bruder Abdullah von der Arabischen Halbinsel aus mit ein paar hundert Kämpfern auf den Weg nach Norden, um dort für die arabische Sache und die Herrschaftsansprüche der Haschemiten einzustehen. Von Ma’an aus, einem an der Hejaz-Bahn gelegenen Garnisonsstädtchen im Süden Transjordaniens, knüpft er Bande mit den örtlichen Stämmen und den aus Syrien geflohenen arabischen Nationalisten, die in Transjordanien auf ihre Revanche warten.

Historische Karte des Sykes-Picot Abkommens (Foto: CPA Media)
Die Originalkarte des Sykes-Picot-Abkommen. Das französische Mandatsgebiet ist blau, das britische rot markiert. Mit dem im Mai 1916 geschlossenen Abkommen haben Briten und Franzosen den Nahen Osten nach eigenen geopolitischen Interessen aufgeteilt. London und Paris zogen Grenzen, mit denen sie Fakten schufen. Die tatsächlichen Grenzen der späteren Staaten sollten zwar erst im Laufe der Jahre festgelegt werden; dennoch gingen aus dem französischen Gebiet der Libanon und Syrien hervor, aus dem britischen Jordanien und der Irak.

Handschlag in Jerusalem

Auf dem Weg zurück aus Kairo macht Churchill Halt in Jerusalem, wo er einen Deal mit Abdullah besiegelt: Abdullah soll seine Ambitionen auf Syrien fallen lassen, für Ruhe an der transjordanisch-syrischen Grenze sorgen und das in den Augen der Briten zunehmend anarchische Niemandsland östlich des Jordan unter Kontrolle bringen. Dafür wird er – zunächst probehalber für sechs Monate– zum Emir von Transjordanien ernannt und erhält finanzielle und militärische Unterstützung aus London.

Wenige Tage später, am 11. April 1921, beruft Abdullah seine erste Regierung ein. Bezeichnenderweise ist unter den acht Mitgliedern nur ein Transjordanier (neben Vertrauten von der Arabischen Halbinsel, aus Syrien, Palästina und dem Libanon). Zwar wird sich der pragmatische Abdullah bald den politischen Realitäten fügen müssen, doch noch hat er seine pan-arabischen Aspirationen nicht aufgegeben.

Als er von Ma’an zu seiner späteren Hauptstadt Amman aufbricht, hält er eine Ansprache an der Bahnstation und erklärt: „Alle arabischen Länder sind das Land eines jeden Arabers.“ Seine mit Hilfe der Briten gegründete militärische Polizeieinheit, aus der später die jordanische Armee hervorgeht, nennt er stolz „Arabische Legion“.

Ein hybrider Staat als Überlebenskünstler

Transjordanien entsteht im Zusammenspiel von vier Faktoren, die die Entwicklung des Landes geprägt haben und bis heute nachwirken.

Erstens sind vor Ort die Stämme bzw. lokalen Stammesführer tonangebend, die zwar ein Mindestmaß an Stabilität und Ordnung schätzen, vor allem aber ihre eigene Autonomie bewahren wollen.

Zweitens bringt Abdullah eine quasi natürliche Herrschaftslegitimation mit: Die Haschemiten führen ihre Abstammung auf den Propheten Mohammed zurück, regieren seit hunderten von Jahren über die heiligen Stätten in Mekka und Medina (bis sie 1925 den Al-Sauds weichen müssen) und haben im Ersten Weltkrieg die arabische Revolte angeführt.

Drittens geht in der Nachkriegszeit nichts ohne die Briten, die gemeinsam mit den Franzosen den Nahen Osten militärisch kontrollieren und sich ihre kolonialen Begehrlichkeiten im Rahmen der Völkerbund-Mandate auch international haben absichern lassen.

Dazu kommen, viertens, arabische Nationalisten, die Transjordanien als Teil eines unabhängigen arabischen Herrschaftsgebildes sehen, das sich gegen den französischen und britischen Imperialismus sowie den jüdischen Zionismus behaupten soll. Zu einem Kernthema jordanischer Politik entwickelt sich bald die Palästina-Frage – und damit auch das Verhältnis zu Israel. Erst 1988 wird Jordanien seine Ansprüche auf das Westjordanland, mit dem es geschichtlich und kulturell eng verwoben ist, endgültig aufgeben.

 -Truppen des soeben gegründeten Jordanien im Jahr 1921 (Foto: picture-alliance/CPA Media)
„Der Monarchie ist es über die ganze hundertjährige Geschichte hinweg gelungen, sich als weithin anerkannten Garanten der Einheit Jordaniens zu etablieren und die Interessen der verschiedenen Gruppen auszubalancieren. Dies ist umso bedeutsamer in einem Land, dessen Bevölkerung von unterschiedlichen Identitäten geprägt ist, etwa derjenigen der alteingesessenen Transjordanier einerseits und der Palästina-Flüchtlinge (vor allem aus den Nahost-Krisen von 1948/49 und 1967) und ihrer Nachkommen anderseits“, analysiert Edmund Ratka.

Vielleicht ist es gerade die aus dieser historischen Konstellation erwachsende eigentümliche hybride Staatsstruktur mit Elementen traditionell-beduinischer, modern-zentralstaatlicher und indirekt-kolonialer Herrschaft, die dem ressourcenarmen und von konkurrierenden Regionalmächten eingezwängten Flecken Land das Überleben in den Wirren der nahöstlichen Politik erleichterten.

1946 wird das Emirat zum Königreich und erhält seine Unabhängigkeit von Großbritannien. Während in den 1950er Jahren Militärs die Monarchien in Ägypten und im Irak hinwegfegen und in Syrien ein Putsch den nächsten jagt, kann Abdullahs Enkel, der von 1952 bis 1999 regierende König Hussein, seine Herrschaft behaupten – auch mit Unterstützung der USA, die nach dem Rückzug Großbritanniens aus dem Nahen Osten zu Jordaniens wichtigstem Verbündeten avancieren.

Hundert Jahre – und jetzt?

Heute ist der Nahe Osten erneut in einer Umbruchsphase. Der Arabische Frühling und die immer wieder aufflammenden Protestwellen der letzten Dekade haben deutlich gemacht, dass die verkrusteten Herrschaftssysteme in der Region für ihre überwiegend jungen Bevölkerungen keine ausreichenden Perspektiven bieten. Das Haschemitische Königreich indes ist von diesen Umbrüchen bislang kaum erschüttert worden.

Der Monarchie ist es über die ganze hundertjährige Geschichte hinweg gelungen, sich als weithin anerkannten Garanten der Einheit Jordaniens zu etablieren und die Interessen der verschiedenen Gruppen auszubalancieren. Dies ist umso bedeutsamer in einem Land, dessen Bevölkerung von unterschiedlichen Identitäten geprägt ist, etwa derjenigen der alteingesessenen Transjordanier einerseits und der Palästina-Flüchtlinge (vor allem aus den Nahost-Krisen von 1948/49 und 1967) und ihrer Nachkommen anderseits.

Auch für das Zusammenleben der muslimischen Mehrheit mit den Christen, die heute noch knapp fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, und anderen kleineren ethnischen Minderheiten wie den Tscherkessen hat sich der staatliche Rahmen des Königreiches bewährt. Zudem gibt es in Jordanien eine lange Tradition, kritische Stimmen einzubinden. So manch heutiger Minister war in seiner Studentenzeit in der Opposition aktiv.

Schließlich erweckte der Modernisierungsdiskurs, den König Abdullah II. (der Urgroßenkel des Staatsgründers) seit seinem Amtsantritt 1999 vertritt, Hoffnungen auf demokratische Reformen – Schritt für Schritt und ohne die Gewalt und das Chaos, das die Jordanier in ihren Nachbarländern Irak und Syrien zu sehen bekamen. Die Verantwortung für Stillstand wurde hingegen zuvorderst den Regierungen zugeschrieben, die der König regelmäßig auswechselte.

Am Grab der Ahnen: Prinz Hamsa (zweiter von links) und König Abdullah (direkt hinter dem Blumenschmuck): (Foto: Jordan Royal Palace/AFP)
Jordaniens Königshaus bemüht sich um Geschlossenheit: Nach der mutmaßlichen Verschwörung sind König Abdullah II. und sein Halbbruder, der ehemalige Kronprinz Hamsa bin Hussein, erstmals wieder gemeinsam öffentlich aufgetreten. Das staatliche Fernsehen übertrug Aufnahmen, auf denen zu sehen war, wie sie mit anderen Mitgliedern der Königsfamilie an einem Gebet im Mausoleum der früheren Monarchen teilnahmen. Anlass für den Besuch der Gräber der Könige Abdullah I., Talal und Hussein war die Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit Jordaniens.

Wirtschaftlicher und politischer Reformbedarf

Doch auch Jordanien muss sich bewegen. Die liberalen Wirtschaftsreformen und Privatisierungen seit den 2000er Jahren haben zwar ausländische Investitionen ins Land geholt und die Konjunktur belebt. Doch die soziale Ungleichheit hat sich dabei eher vergrößert, der Arbeitsmarkt konnte mit der wachsenden Bevölkerung nicht Schritt halten.

Offiziell ist heute jeder vierte Jordanier arbeitslos. Die Corona-Krise hat die wirtschaftliche Krise noch verschärft. Der Tourismus, der sich gut entwickelt hatte und 2019 fast ein Fünftel zum Bruttoinlandsprodukt beitrug, ist eingebrochen. Gerade die vielen Tagelöhner und Kleinunternehmer leiden unter dem Teil-Lockdown, den die Regierung zur Pandemiebekämpfung verhängt hat. Der Staatsapparat, der ein Viertel aller jordanischen Berufstätigen beschäftigt, ist aufgeblasen. Das Land ist auf internationale Hilfsgelder angewiesen. Allein aus den USA fließen jährlich über eine Milliarde US-Dollar Unterstützung ins Land und auch für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit gehört Jordanien mittlerweile zu den Top-Empfängerländern. Doch wie lange werden diese Mittel angesichts der globalen Verwerfungen der Corona-Krise noch fließen?   

Erneuerungsbedarf gibt es auch in der Politik. Zwar waren im Zuge des Arabischen Frühlings zunächst kleinere Fortschritte im Demokratisierungsprozess zu verzeichnen: Neue Institutionen wie das Verfassungsgericht und eine unabhängige Wahlbehörde wurden eingeführt.

Doch zuletzt haben sich die Spielräume für politische Beteiligung und Meinungsäußerung im Land wieder verengt. Im vergangenen Jahr wurde der Lehrerverband aufgelöst, nachdem dieser mit Streiks und Protesten für höhere Löhne demonstriert hatte. Die Parlamentswahl im November 2020 wurde selbst von staatsnahen Institutionen wie dem Zentrum für Menschenrechte als nicht ausreichend fair kritisiert. Manche Parteien berichteten, dass die Sicherheitsbehörden im Vorfeld Druck auf Kandidaten ausübten, sich nicht zur Wahl zu stellen. Der König persönlich rief in einem öffentlichen Brief im Februar 2021 die Sicherheitsbehörden auf, sich künftig auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren, und forderte eine Reform des Wahl- und Parteiengesetzes.

Der Politikwissenschaftler Edmund Ratka leitet seit November 2020 das Auslandsbüro Jordanien der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Amman. (Foto: KAS)
Jordanien braucht eine Vision für das zweite Jahrhundert: Der jordanische König Abdullah II. hat die politische Krise der vergangenen Tage für beendet erklärt. Jedoch bleibt der Reformbedarf groß: die ressourcenarme Monarchie benötigt erweiterte „Spielräume für politische Beteiligung und Meinungsäußerung“ und eine „neue Entwicklungsperspektive“, wie Edmund Ratka in seiner Analyse konstatiert.

Anfang April informierten Königshof und Regierung über eine Verschwörung gegen die „Sicherheit und Stabilität Jordaniens“, die im Keim erstickt worden sei. Über ein Dutzend Personen wurde verhaftet und mit Prinz Hamza auch ein prominentes Mitglied der Königsfamilie unter Hausarrest gestellt. Die detaillierten Hintergründe sind nach wie vor unklar. Doch der Vorfall zeigt die Nervosität der Herrschaftselite sowie die Anspannung im Land, in dem Klagen über wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, über Korruption und staatliches Missmanagement immer lauter werden.

Auf der Suche nach einer Entwicklungsperspektive

Die Nachrichten über die vereitelte Palastrevolte werfen einen Schatten auf die Hundertjahrfeier, die vor allem dem Königshof ein Anliegen war und den Jordaniern Mut auf die Zukunft machen sollte. Ein eigens kreiertes Logo, versehen mit dem Slogan „Und der Weg geht weiter“, säumt das ganze Jahr hinweg landesweit Straßenkreuzungen und öffentliche Gebäude. Der 11. April 2021 wurde zu einem nationalen Feiertag erklärt. Damit soll des hundertjährigen Jahrestages gedacht werden, als Abdullah die Verwaltung des damaligen Emirats Transjordanien offiziell übernahm.

Doch eine Vision für das zweite Jahrhundert ist all das freilich noch nicht. Der Stolz auf das Aufbauwerk, das Generationen von Jordanierinnen und Jordaniern und auch die Haschemitische Dynastie inmitten einer krisengeplagten Region geleistet haben, ist berechtigt. Er ersetzt aber nicht eine ehrliche und glaubwürdige Diskussion über die aktuellen Herausforderungen und die weitere Entwicklung des Landes. Auch dafür braucht es jetzt Raum.

Edmund Ratka

© Qantara.de 2021    

Dr. Edmund Ratka leitet seit November 2020 das Auslandsbüro Jordanien der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Amman. Zuvor arbeitete er als Nahost-Referent in der Stiftungszentrale in Berlin sowie im KAS-Auslandsbüro in Tunis. Der Politikwissenschaftler war vor seinem Eintritt in die KAS 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator an der Universität Passau und am Centrum für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

Zum Weiterlesen:

Kamal Salibi, The Modern History of Jordan, New York, I.B. Tauris, 1998

Yoav Alon, The Making of Jordan. Tribes, Colonialism and the Modern State, New York, I.B. Tauris, 2009