Liebe und Gotteserfahrung

Stefan Weidner hat die 61 Liebesgedichte aus dem Zyklus „Der Übersetzer der Sehnsüchte“ des berühmten Mystikers Ibn Arabi erstmals vollständig ins Deutsche übertragen. Doch sind die Gedichte heute ohne Vorwissen verständlich? Von Marian Brehmer.

Von Marian Brehmer

Muhyiddin Ibn Arabi ist eine der tiefsinnigsten und interessantesten Persönlichkeiten der islamischen Kultur. Wegen ihrer Be­deu­tungstiefe sind Ibn Arabis Werke bisher selten ins Deutsche übersetzt worden – und das trotz der historischen Bedeutung ihres Verfassers. Außerdem ist Ibn Arabis Werk ungeheuer umfangreich und gilt als für den Laien schwer verständlich; jedenfalls haben dies Kommentatoren seiner Sufi-Trak­tate aus Ost und West über die Jahrhunderte betont.

Stefan Weidner, Kölner Islamwissenschaftler und Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Fikrun wa Fann“, sieht das anders, zumindest was Ibn Arabis berühmte Ge­dicht­sammlung, den „Tarjuman al-Ashwaq“ (Übersetzer der Sehnsüchte), angeht.  Weid­ner, der für seine Übersetzungen aus dem Arabischen unter anderem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet wurde, hat jetzt zum ersten Mal Ibn Arabis Gedichte vollständig ins Deutsche übertragen.

Die Verse, erklärt Weidner, hätten einen modernen und freizügigen Charakter und könn­ten unmittelbar zu uns sprechen, ohne vom Leser ein besonderes Vorwissen zu verlangen. Geleitet von dieser Überzeugung ist eine interessante Übersetzung ent­standen: Sprachlich modern und von literarischem Regelwerk befreit, in Klein­schrei­bung und ohne Satzzeichen. So bleibt beim Lesen der Gedichte maximaler Raum für die eigene Interpretation, auch wenn die Lektüre einiges an Gewöhnung braucht; um nicht doch zu sagen: Vorwissen.

Erotische Anspielungen

Der „Übersetzer der Sehnsüchte“ besteht aus 61 Liebesgedichten, zu denen Ibn Arabi durch eine schicksalshafte Begegnung inspiriert wurde. Während seiner ersten Pil­ger­fahrt nach Mekka machte er Bekanntschaft mit Nizam, der schönen und talen­tierten Tochter eines Gelehrten aus Isfahan. So kommt es, dass die Verse des „Über­setzers“ mit zweideutigen, manchmal ins Erotische reichenden Anspielungen ge­spickt sind, die Weidner in seiner knappen Einführung zu Recht als für die ara­bi­sche Dichtung revolutionär beschreibt.

Buchcover: Ibn Arabi "Der Übersetzer der Sehnsüchte"; Bild: Verlag Jung und Jung
Ibn Arabi ist einer der bedeutendsten mystischen Schriftsteller des islamischen Mittelalters, vergleichbar nur mit Hafis, Rumi und Omar Khayyam. Geboren in Andalusien, durchstreifte er die gesamte arabische Welt, vollzog die Pilgerfahrt nach Mekka, sein Grab in Damaskus ist heute ein Wallfahrtsort. Arabis poetisches Hauptwerk mit dem Titel "Der Übersetzer der Sehnsüchte", von dem bisher nur wenige Auszüge zu lesen waren, erscheint hier erstmals vollständig auf Deutsch.

Weidner setzt sich dafür ein, die Gedichte als das zu lesen was sie sind, nämlich Literatur, und sie aus sich selbst sprechen zu lassen. Er kritisiert, dass viele Über­setzer Ibn Arabis Verse aus einer sufischen Haltung heraus interpretiert hätten. Dies habe die Gedichte bisher vor allem im geistigen Licht der islamischen Spiritualität erscheinen lassen. Doch wie sehr lässt sich jemand wie Ibn Arabi, der durch seine Biografie wie kein anderer für die geistigen Höhen der islamischen Erlebnismystik steht, überhaupt „entmystifizieren“?

Wer Ibn Arabis Welt kennt, weiß, dass all sein Schreiben auf das Erkennen der gött­lichen Essenz gerichtet ist. Ibn Arabi verstand es, die widersprüchlichen Phänomene der Welt zu einem Ganzen zusammenzufügen, in dem alles Erlebte zu einer Mani­festation des Göttlichen wird. In seinem eigenen Kommentar zu den Gedichten, einer Rea­ktion auf die entrüstete Kritik der Orthodoxie, macht Ibn Arabi dann auch selbst deutlich: Seine Verse handeln von spirituellen Wahrheiten, auch wenn sie in die Meta­­phorik von profaner Liebe gekleidet sind. Ist das nur ein entschuldigender Rückzieher eines in die Enge getriebenen Schriftstellers? Wohl kaum.

Nicht auf Romantik reduzieren

Auch wenn Ibn Arabis Liebe zu Nizam mit aller Wahrscheinlichkeit eine körperliche Dimension besaß, ist es ein Fehler, sie darauf zu reduzieren oder die Verse gar als romantisch-erotische Aussprüche zu lesen. Nach solch einer modernen Lesart las­sen wir Ibn Arabi automatisch als „seiner Zeit voraus“ erscheinen oder – typisch für den modernen Diskurs – als Gegengift zum prüden Durchschnittsislam von heute.

So ist die von Weidner angesprochene Umdeutung von theologischen Motiven und deren Vermischung mit weltlichem Vokabular bei Ibn Arabi nicht in erster Linie als provokativ-literarischer Akt zu verstehen, sondern wird erst im Kontext der Ein­heitser­fahrung begreifbar, die sich beim Mystiker als Befreiung von orthodoxen Struk­turen und Gegensätzen äußert.

Dichtung als mystische Erfahrung

Dichtung ist für die Sufis immer in erster Linie Ausdruck einer intensiven Gotteserfahrung gewesen, selbst bei Dichtern wie Hafez oder Omar Chayyam, die das Spiel mit scheinbar profanen Metaphern wie dem berühmten Weinrausch auf die Spitze trieben. Anstatt nur spirituellen Spekulationen Ausdruck zu verleihen, wird das Ge­dicht selbst für den Sufi zur mystischen Erfahrung. Denn Gedichte wurden in der isla­mischen Tradition stets vorgetragen. Oft geschah dies in einer Verschme­l­zung von Dichtung und berückender Musik, eine Praxis, mit der Sufis noch heute das Transzendente suchen.

Deshalb ist die junge Nizam für Ibn Arabi auf tieferer Ebene ein Sinnbild für die Liebe selbst und nicht, wie es die oberflächliche Interpretation suggeriert, nur eine ange­be­te­te Person. Wie der große französische Mystik-Forscher Henri Corbin schrieb, ver­körpert Nizam das göttliche Bedürfnis, sich durch sich selbst zu erkennen, mani­festiert als der „verborgene Schatz“, wie es in einem berühmten Sufi-Hadith heißt.

So erhascht der uninformierte Leser dieser übersetzten Gedichte zwar höchstens eine leise Ahnung vom Wesen Ibn Arabis, hat dafür jedoch reichlich Gelegenheit, einen eigenen Zugang zu den Gedichten aufzubauen. Das allein ist schon mal gut, denn jedes kulturelle Gegengewicht zu den haarsträubenden Islam-Debatten unserer Zeit ist begrüßenswert.

Marian Brehmer

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