"Der Riss" - Europas Identitätskrise
Sind Sie bei Ihrer Fotoreportage anders vorgegangen als bei Ihrem Buch? Und wo liegen die Unterschiede?
Spottorno: Im Medienkontext verbindet sich die eigene Stimme stets mit der Stimme des Mediums, für das man schreibt. Wenn man davon unabhängig etwas schreibt, übernimmt man die alleinige Verantwortung für die eigenen Aussagen. Das Buch enthält zudem einige Details, die nur aus dem Kontext erklärt werden können. Hingegen erlaubt die Reportage einen persönlicheren Tonfall und unterschiedliche Auslegungen der beobachteten Realität.
"Der Riss" baut auf verschiedenen Erzählsträngen auf. Erstens ist da die Art und Weise, wie Sie als Journalisten Informationen recherchiert haben und welchen Blockaden und Barrieren Sie begegnet sind. Zweitens die verschiedenen Narrative, die jedes Land über seinen Umgang mit der Migration entwickelt. Und dann gibt es noch die Momente, in denen Sie sich auf Ihr eigenes Leben beziehen. Wie haben Sie entschieden, wie viel von Ihnen in die Geschichte einfließen soll?
Abril: Wir haben das von Anfang an festgelegt. Carlos und ich wollten stets von "uns" in der ersten Person Plural sprechen. Wir geben kleine Einblicke in unser eigenes Leben und machen uns so zu Zeugen der Geschichte, damit sich der Leser mit der Reportage identifizieren kann und Europa in seinen Veränderungen so sehen kann, wie wir es erlebt haben.
Spottorno: Um an einer Geschichte dranzubleiben, muss man einem Protagonisten folgen. Keiner der Protagonisten aus dem Buch wird jemals wiederholt. Abgesehen von uns gibt es sonst niemanden, dem man von Anfang bis Ende folgt. Zum Schluss jedes Kapitels reflektieren wir kurz das Erlebte, damit der Leser auch unsere eigene Perspektive wahrnehmen kann.
Wie ist es Ihnen gelungen, dem Leser die ganze Mikrodynamik zu erklären und gleichzeitig Mitgefühl für die Migranten und die vielen Menschen zu vermitteln, denen Sie begegnet sind?
Abril: Nun ja, darin sehe ich meine Aufgabe als Journalist. Ein Journalist schreibt über Menschen im historischen Kontext. Wir gehen zu den Migranten, wir gehen zu den Polizisten oder zu den Medien an der Grenze, zu den Freiwilligen, zu den NGOs, die versuchen zu helfen. Aber ein Journalist muss verstehen, was unter der Oberfläche vor sich geht; wie die Länder miteinander umgehen.
Was hat Sie dazu bewogen, "den Riss" als Metapher zu verwenden? Was sind die wesentlichen Risse, auf die Sie in Europa bei Ihren Nachforschungen gestoßen sind?
Spottorno: Wir wollten vermitteln, unter welchem immensen Druck die Europäische Union steht, sowohl von innen als auch von außen. Die jeweiligen Länder verstehen oder erleben die Migrationskrise unterschiedlich. Einige sagen: "Macht die Tür zu! Ihr müsst draußen bleiben". Andere sagen: "Lasst sie rein." Einige sagen: "Lasst es uns zur kulturellen Aufgabe machen." An der Grenze entstehen kleine Risse, die die gesamte Struktur zum Einsturz bringen könnten, wenn sie groß genug und zahlreich genug werden.
Abril: Am Anfang des Buchs zeigen wir Europa als einen Garten, der Menschenrechte, soziale Werte und Demokratie beheimatet. Für die Außenstehenden ist das ein Sehnsuchtsort. Deshalb wollen sie dorthin. Auf unseren Reisen von Ende 2013 bis 2016 konnten wir feststellen, dass beim Umgang mit dieser Situation in Europa viele Werte beschädigt wurden. Zum Schutz der Rechte derjenigen, die in Europa leben, wurden offenbar genau diese Rechte für diejenigen aufgegeben, die von außerhalb Europas kommen. Es ist ein Paradoxon. Darauf beruht die Metapher des besagten Risses.
Ihr Buch verdeutlicht die Komplexität der Situation und zeigt feine Nuancen auf, anstatt einfache Antworten zu geben. Was hat sich mit Blick auf die aktuelle geopolitische Lage seit der Veröffentlichung Ihrer Arbeit im Jahr 2015 verändert?
Abril: Neben dem Brexit ist dies vor allem der Vormarsch des Populismus. Diese Schwarz-Weiß-Malerei hatten wir in dieser Form vorher noch nicht. Sie wird heute aber von vielen Menschen offenbar akzeptiert. Die Politik wird beeinflusst durch den Aufstieg nationalistischer Parteien, der alternativen Rechten sowie durch populistische Parteien links vom Spektrum.
Dennoch würde ich sagen, dass der Nationalismus ein Relikt aus der Vergangenheit ist. Ich bin davon überzeugt, dass diese tribalistische Sicht auf ein Land verschwinden wird. Die Welt hat sich seit der Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert stark verändert. Die Art und Weise, wie wir uns weltweit miteinander vernetzen und miteinander kommunizieren, hat sich verändert. Menschen handeln global. Sie führen rund um die Uhr Transaktionen in verschiedenen Regionen der Welt durch.
Wo liegen Ihrer Meinung nach die größten Defizite der Migrationspolitik der Europäischen Union?
Abril: Uns wird ständig gesagt, es sei wichtig, Hilfe in den Herkunftsländern zu leisten. Aber wir müssen selbstverständlich auch die Menschen auf See retten. Wir müssen einen Weg finden, wie Menschen auf humanere und geordnete Weise nach Europa gelangen können. Wir müssen Austauschprogramme mit Menschen in Afrika auflegen und sie zum Studium nach Europa einreisen lassen. Wir müssen Menschen aus Kriegsgebieten Zugang gewähren. Vieles, was erzählt wird, beruht nicht auf Fakten. Das ist eines der großen Defizite.
Carlos Spottorno and Guillermo Abril’s "La Grieta (The Crack)," Juror's Special Mention, 2017 PhotoBook Awards: https://t.co/eiJiJhkL46 pic.twitter.com/xxjslzAQad
— Aperture Foundation (@aperturefnd) November 12, 2017
Spottorno: Wir müssen unser koloniales Wirtschaftssystem drastisch zurückfahren. Dieses System ist Ursache der größten Probleme. Wir möchten alle gerne glauben, dass der Kolonialismus der Vergangenheit angehört. Aber dem ist nicht so. Wir unterhalten weiterhin zu zahlreichen Ländern koloniale Beziehungen. Unternehmerisch betrachtet, streichen wir noch immer die Gewinne ein. Wie Guillermo sagte: Wir müssen die Zusammenarbeit ernster nehmen. Es geht hier um wahre Zusammenarbeit und nicht darum, Geld zu schicken, damit Brunnen in der Wüste gegraben werden.
Abril: Beispielsweise hat mich das Verhältnis zwischen Europa und Libyen erstaunt. Aus Libyen fließen weiter Gas und Öl nach Europa. Aber die Menschen aus Libyen lassen wir nicht rein. Kapitalströme und Ressourcen fließen, doch die Menschen müssen draußen bleiben. Auch das ist etwas, was wir lösen müssen. Die Zusammenarbeit ist doch ein grundlegendes Konzept. Europa beruht auf einem Fundament der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Integration. Doch die Politik befördert im Umgang mit dem Rest der Welt ein Ungleichgewicht.
Vor kurzem haben Sie für El País Semanal eine neue Reportage über Palmyra fertiggestellt. Der Stil ist ähnlich wie in "Der Riss". Sind weitere Projekte in Vorbereitung?
Spottorno: Wir arbeiten derzeit für ein Kunstinstitut in Österreich an einer Geschichte über die Grenze zwischen Österreich und Italien. Es gibt so viele Dinge, die man aus historischer Sicht darüber sagen kann. Der Schwerpunkt liegt auch hier auf Europa und dem Nationalismus – und darauf, wie nationale Identitäten die Welt prägen.
Abril: Diesmal werfen wir allerdings einen genaueren Blick auf die Art der Grenzen. Wir wollen versuchen zu erklären, woher diese nationalistischen Vorstellungen stammen und wie die Konflikte gelöst werden können. Gibt es wohlmöglich einen Weg, die Vorstellungen von Grenzen und Abgrenzung hinter sich zu lassen? Unsere Geschichte über Palmyra handelt genau davon: Die Grenze überschreiten, Europa verlassen und sehen, was auf der anderen Seite ist.
Das Interview führte Naima Morelli.
© Qantara.de 2019
Aus dem Englischen von Peter Lammers