''Das ist nicht Scharia, sondern Banditentum''
Ihre Organisation heißt "Ançar Dine Internationale", in der französisch beeinflussten Schreibweise. In manchen europäischen Zeitungen steht nun, Sie wären ein Ableger der Islamisten in Nord-Mali.
Chérif Ousmane Haidara: Das ist wirklich schlimm! Diese Bewaffneten da im Norden sind gar keine Muslime. Das sind Banditen mit Gewehren! Sie haben unseren Namen gestohlen. Uns gibt es seit 22 Jahren! Das wussten sie natürlich. Wie kann man sich so nennen wie wir? Da stecken die Wahhabiten hinter. Sie wollen uns Schaden zufügen.
Sind Sie damit einverstanden, als Sufi bezeichnet zu werden?
Haidara: Warum nicht? Eigentlich sind alle Muslime Sufis – so hat der Islam angefangen. Heute sind alle, die nicht Wahhabiten sind, Sufis.
Es gibt in Ihrer Organisation eine formelle Mitgliedschaft. Man legt ein Gelübde ab und zahlt einen Monatsbeitrag. Wie viele Mitglieder hat Ançar Dine?
Haidara: Zwei Millionen Mitglieder in Mali. Außerdem haben wir Vertretungen in 24 Ländern, von Frankreich bis China. Das sind Malier, Senegalesen, Ivorer und Menschen aus Burkina Faso.
Wir sind autonom, wir bekommen weder von den Arabern noch von den Westlern Geld. Aus unseren Mitgliedsbeiträgen finanzieren wir Madrassas und Gesundheitszentren.
Unter ihren Anhängern sind viele Frauen. Männer wie Frauen legen ein Gelübde ab ("Baya"), mit dem sie sich zum Einhalten von sechs Moralregeln verpflichten, unter anderem Verzicht auf Ehebruch. Warum ist ein solches Gelübde notwendig? Ihre Mitglieder sind doch vorher schon Muslime.
Haidara: Der Islam hat die Aufgabe zu erziehen. Viele Muslime hier beten, und danach stehlen sie, begehen Ehebruch oder hinterziehen öffentliches Eigentum. Viele meinen, wer betet und zur Moschee geht, ist schon ein Muslim. Das ist falsch! Ich kann tausendmal gebetet haben – wenn ich dann mit der Frau eines anderen schlafe oder korrupt bin, ist das kein Islam. Es gibt sogar welche, die töten, wie die Terroristen. Das ist verboten im Islam!
Sie haben sich von der gewalttätigen Praktizierung der Scharia, der drakonischen Hudud-Strafen, im Norden Malis früh distanziert. Das wurde leider außerhalb Malis kaum zu Kenntnis genommen.
Haidara: Jeder, der im Namen des Islam zur Waffe greift, ist ein Bandit. Diese Leute behaupten, im Namen des Islam zu handeln, aber sie handeln nur im Namen ihrer Waffen. Einfach Hände und Füße abhacken, das ist doch völlig verrückt, das ist keine Scharia. Um Hudud zu praktizieren, dafür gibt es Kriterien. Wenn jemand gestohlen hat, fragt man zuerst: warum hast du das gemacht? Man versucht zu verstehen, was passiert ist. Vielleicht hatte der Dieb nicht genug zum Leben. Dann hackt man keine Hand ab.
Was sagen Sie zu der Zerstörung der Mausoleen in Timbuktu?
Haidara: Der Islam verbietet so etwas. Der Prophet wurde erst im Zimmer seiner Frau begraben und dann in einer Moschee. Wir werden die Mausoleen wieder errichten.
Manche Beobachter sehen einen Zusammenhang zwischen den bewaffneten Islamisten im Norden und einem steigenden Einfluss von wahhabitischen Imamen in der Hauptstadt Bamako. Was ist der wichtigste Unterschied zwischen Ihrer Ançar Dine und den Wahhabiten in Mali?
Haidara: Also ich würde sagen: Was ist der Unterschied zwischen den Muslimen und den Wahhabiten? (lacht) Die Wahhabiten sagen: Alle Menschen sind gleich. Aber der Prophet wurde von Gott erhoben, obwohl er ein Mensch war. Die Menschen sind also nicht gleich. Gott erhebt manche, und durch sie können sich die anderen Gott nähern.
…das ist das afrikanische System des Marabutismus…
Haidara: Voilà. Aber die Wahhabiten meinen, man könne keinen Segen bekommen durch einen anderen, den Gott erhoben hat. Sie mögen es auch nicht, wenn ein Marabut eine Flüssigkeit ausgibt oder einen Koranvers aufschreibt, um eine Krankheit zu heilen oder ein Problem zu beseitigen.
Die Wahhabiten schicken die Leute lieber in Krankenhäuser, wo Medikamente benutzt werden, von denen man gar nicht weiß, was da alles drin ist, Drogen oder Alkohol.
Nach Ihrer Ansicht kann der Islam also traditionelle afrikanische Gebräuche einschließen?
Haidara: Ja. Ich bin Muslim, ich bin kein Araber. Ich praktiziere meine Kultur, meine Sitten, wenn sie nicht ausdrücklich verboten sind. Wir leben hier als Muslime, als Christen und als Ungläubige zusammen, und die Erde, der Boden, ist für alle da, denn er ist von Gott. Wir leben hier in Frieden zusammen. Zu sagen, entweder du bist Muslim oder ich töte dich, das ist verrückt! Das hat Gott niemals gesagt!
Wie kann Mali aus seiner Krise herauskommen? Sind Sie für Verhandlungen mit den bewaffneten Islamisten?
Haidara: Nein, ich bin dagegen. Solange die Banditen die Waffen nicht niederlegen, kann man mit ihnen nicht verhandeln.
Im "Hohen Islamischen Rat" von Mali sind Sie der Vize-Präsident. Der Präsident steht den Wahhabiten nahe; das Verhältnis zwischen Ihnen beiden gilt als angespannt. Machen Sie sich Sorgen über einen Aufstieg der Wahhabiten?
Haidara: Natürlich, denn sie haben Geld! Die Araber geben ihnen Geld, damit bauen sie Moscheen und Schulen. Und manche Malier, die sehr arm sind, laufen bei ihnen mit, um etwas Geld zu bekommen. Aber sie stellen bisher nur 15 Prozent in Mali.
Es hat etwas gedauert, bis unser Präsident, der ein Wahhabit ist, endlich die Verbrechen in Nordmali verurteilt hat. Aber jetzt tut er es. Wir müssen also unterscheiden zwischen denen, die Mausoleen kritisieren und denen, die sie zerstören.
Sie sammeln jetzt die nicht-wahhabitischen Prediger in einer neuen Organisation. Bei einer Konferenz in Bamako trafen sich gerade alle Bruderschaften und die traditionellen religiösen Familien Malis. Wird das eine Allianz gegen die Wahhabiten?
Haidara: (lacht) Wir haben alle Sufis aufgerufen, sich die Hände zu reichen. Wir wollen unsere Kräfte bündeln und Malis authentischen Islam verteidigen.
Interview: Charlotte Wiedemann
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de