"Wir lehnen die neoliberale Politik ab"
Es wird häufig behauptet, dass die arabischen Länder sich der Globalisierung widersetzten. Sind es eher die arabischen Regimes, die Angst vor der Globalisierung haben, oder die Bevölkerungen?
Salameh Keileh: Die arabischen Regimes haben sich schon seit Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts der Globalisierung geöffnet, indem sie sich den Bedingungen des Internationalen Währungsfonds unterworfen haben. Diese Bedingungen waren der Anfang der Globalisierung, die also kein Problem für die arabischen Regime darstellen, weil sie Teil des internationalen Kapitalismus geworden sind. Ein anderer Punkt ist, dass es in der arabischen Welt die wenigsten Aktivitäten gegen die Globalisierung gibt, obwohl die Region mehr als andere unter deren Problemen zu leiden hat.
Die sozialen Bewegungen in Europa und in anderen Ländern der Welt haben sich stärker gegen die Globalisierung zur Wehr gesetzt. Das hat mit der Situation in despotischen Regimes zu tun, in denen die politische Bewegung zerschlagen wurde. Deshalb ist die soziale Bewegung in diesen Ländern schwach ausgebildet. Die Regimes lehnen also die Globalisierung nicht ab, sondern die Bevölkerungen, denn die Globalisierung hat eine Verschlechterung des Lebensstandards durch den vollkommenen Zusammenbruch der Wirtschaft zur Folge. Das kann man jetzt in Ägypten beobachten: Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat das Land begonnen, sich den Bedingungen des Internationalen Währungsfonds zu beugen. Die ägyptische Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Möglicherweise wird es eine explosive Volksbewegung geben, als Resultat der tiefen Wirtschaftskrisen, die sich infolge der Anpassung an den internationalen Kapitalismus und die Herrschaft der Marktwirtschaft und des Neoliberalismus ergeben.
In Europa betrachtet man die Globalisierung mit anderen Augen, sie wird nicht durchweg negativ bewertet. Welche Formen der Globalisierung fürchten Sie am meisten?
Keileh: Die amerikanische Form der Globalisierung, die sich auf die Gewalt stützt, auf die Macht und auf den Krieg, in dessen Folge alternative Regime installiert werden, die sich den USA unterwerfen. Dies ist die Form der Globalisierung, die sich seit dem Zusammenbruch des Sozialismus Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre durchgesetzt hat. Es bedeutet die erneute Unterwerfung der Länder des Südens - und unter ihnen die arabischen Länder - unter die Mechanismen der Herrschaft des Kapitalismus. So gesehen sind die Auswirkungen der Globalisierung auf die unterentwickelten Länder unbedingt negativ, sei es durch Krieg oder Zerstörung oder sogar durch die ökonomischen Mechanismen. Denn die Herrschaft des Kapitalismus bedeutet die Zerstörung ganzer Wirtschaftszweige in den unterentwickelten Ländern, entweder im Bereich der Landwirtschaft oder der begrenzten Industrie, die in den letzten fünfzig Jahren entstanden ist.
Glauben Sie, dass es in den arabischen Ländern eine besondere Angst vor dem Verlust der Identität durch die Globalisierung gibt?
Keileh: Nein, das glaube ich nicht. Ich habe keine Angst um die Identität. Die fundamentalistischen Bewegungen befürchten den Verlust der Identität, weil sie glauben, dass ihre alte Kultur die einzig vorherrschende Kultur sein soll. Und dass neue kulturelle Werte, die die Gesellschaft übernimmt, fremde Werte seien. Deshalb bekämpfen die Fundamentalisten nur die kulturelle Seite der Globalisierung, nicht aber die ökonomische, bzw. sie sehen diese gar nicht. Dabei ist die ökonomische Seite der Globalisierung gefährlicher, weil sie das Privatkapital unterstützt, den Privatbesitz und die Marktwirtschaft. Aber die Fundamentalisten bekämpfen die kulturelle Seite der Globalisierung, aber nicht nur die amerikanische Konsumkultur, der die Antiglobalisierungsbewegung sehr kritisch gegenübersteht, sondern sie bekämpfen die gesamte moderne kapitalistische Kultur in allen ihren Färbungen. Eine Kultur, die einen wichtigen Fortschritt darstellt, die aber auch das fundamentalistische Denken leugnet, weil sie es überwunden hat. Ich glaube nicht, dass für die Identität eine Gefahr besteht, weil es ein allgemeines Nationalgefühl gibt, das man nicht einfach auslöschen kann. Das Denken ändert sich, die Sicht auf das Leben ..., diese Dinge ändern sich auf jeden Fall. In der arabischen Welt ändern sie sich seit zwei Jahrhunderten. Deshalb gibt es diese Angst nicht. Es gibt aber eine besondere Angst vor dem amerikanischen Kapitalismus oder dem Kapitalismus allgemein, der den Nationalstaat verdrängen will, indem er Konflikte provoziert, die zur Zersplitterung führen. Aber eine gesellschaftliche Bewegung, die sich gegen die Globalisierung und die bestehenden Regimes einsetzt, kann dies überwinden.
Sie haben eine Gruppe gegründet, die sich "Antiglobalisierungsaktivisten in Syrien" nennt. Welche Ziele verfolgen Sie?
Keileh: Wir sind gegen die Mechanismen der Globalisierung, die weltweit aufgezwungen werden. Wir lehnen die neoliberale Politik und die Kriege ab, die der Kapitalismus führt, sei es in den arabischen Ländern oder in der ganzen Welt. Deshalb unterstützen wir alle gesellschaftlichen Bewegungen, die sich der Globalisierung weltweit entgegenstellen, etwa Bewegungen, die sich für die Umwelt einsetzen, die Menschenrechte, die Rechte der Frauen oder auch die Gruppierungen, die sich für eine Entschuldung der Länder der Dritten Welt einsetzen. In Syrien haben wir unsere Rolle so definiert, dass wir uns der Politik des Regimes entgegenstellen, die sich der Globalisierung unterwirft. Das macht sich bemerkbar in der Abschaffung des öffentlichen Sektors oder der Abschaffung der ökonomischen Rolle des Staates – etwa durch den Rückzug aus der kostenlosen Bildung, dem Gesundheits- und dem Sozialversicherungswesen, aber auch die Aufgabe der Rolle des Investors. Wir versuchen die Problematiken dieser Politik aufzudecken.
Wir versuchen also in Syrien über die Globalisierung aufzuklären, besonders weil Syrien nicht vollkommen in den Globalisierungsprozess eingegliedert ist, wie etwa Ägypten oder Jordanien oder die Maghrebstaaten, und dadurch das Verständnis, was Globalisierung ist, unklarer ist als in anderen Teilen der Welt. Die Menschen haben die Auswirkungen der Globalisierung noch nicht so stark zu spüren bekommen, und deshalb spüren sie auch die Probleme noch nicht so stark, etwa die Auswirkungen eines sich öffnenden Marktes und die Rolle des imperialistischen Kapitals. Aber sie spüren die Probleme des totalitären Regimes, dessen grundlegende Basis der öffentliche Sektor ist. Es gibt deshalb viele Intellektuelle, die dazu neigen, die Abschaffung der ökonomischen Rolle des Staates zu akzeptieren sowie eine ausgedehnte Privatisierung und eine Eingliederung in den Prozess der Globalisierung, in dem Glauben, dass dies zu einem demokratischen System führen würde. Ich glaube hingegen, dass es durch den Zusammenbruch der Ökonomie, sei es in der Landwirtschaft oder der Industrie oder im Bereich der Dienstleistung, zu weiteren tiefen gesellschaftlichen Krisen kommen wird, und dass dies ein Absinken des Lebensstandards und damit wirkliche soziale Krisen zur Folge hat. Deshalb lehnen wir es ab, wenn der Staat seine ökonomische Rolle aufgibt. Aber wir kritisieren auch die Form der Herrschaft der regierenden Clique über den gesamten öffentlichen Sektor und seine Aktionsmechanismen, weil diese einen breiten Raubbau am öffentlichen Sektor betreibt. Wir glauben aber nicht, dass uns diese Probleme dazu bringen sollten, die Abschaffung des öffentlichen Sektors zu fordern.
Wie können Sie in einem Land wie Syrien agieren? In welcher Form können Sie Ihre Ziele öffentlich machen?
Keileh: Wir haben eine periodische Veröffentlichung namens "Badil" ("Alternative"; A.d.Ü.), von der bisher 21 Ausgaben erschienen sind. Darin versuchen wir, die Probleme der weltweiten Globalisierung aufzuzeigen. Wir haben mehrere Artikel geschrieben, welche Form der Globalisierung wir bekämpfen. Wir haben auch versucht, die Gründe für die Kriege, die der amerikanische Staat führt, darzulegen, sei es in Afghanistan oder im Irak, und diese mit der Globalisierung in Verbindung gebracht. Es gibt auch eine Internetseite, auf die wir zum einen unsere Zeitschrift stellen, zum anderen versuchen wir dort Beiträge zu veröffentlichen, die den Begriff Globalisierung und ihre Probleme und Auswirkungen auf die Erfahrung anderer Länder erklären, zum Beispiel in Ägypten oder in den Maghrebstaaten. Jetzt versuchen wir, die Webseite weiterzuentwickeln, damit sie eine dialogische Form annimmt: Meinungen, Anmerkungen, Diskussionen über die Globalisierung. Außerdem beteiligen wir uns an Aktionen in Syrien, insbesondere an Demonstrationen gegen den Krieg im Irak, zur Unterstützung der palästinensischen Intifada, und wir stellen Forderungen innerhalb Syriens auf, im Bereich Menschenrechte und Demokratie und unterstützen die Forderungen der Studenten. In Syrien sind alle Debattierclubs und Vereine verboten.
Wie können Sie aktiv sein in einem Land, in dem es praktisch keine Zivilgesellschaft gibt? Wie verteilen Sie Ihre Zeitschrift? Haben Sie keine Angst?
Keileh: Wir veröffentlichen alle Artikel unter unserem richtigen Namen. Wir sind eine Bewegung, die versucht, eine begrenzte Rolle in der Gesellschaft zu spielen, nämlich in der Ablehnung der Globalisierung und ihrer Auswirkungen in Syrien. Natürlich sind in Syrien keine öffentlichen Aktionen von Debattierclubs, Vereinen und Parteien - außerhalb denen der Nationalen Front - erlaubt. Aber in der Realität hat man in letzter Zeit einigen gesellschaftlichen Bewegungen gestattet, begrenzt aktiv zu sein. Die Regierung hat bis jetzt ein Auge zugedrückt angesichts dieser Aktivitäten, aber sie versucht auch klarzumachen, dass sich diese Aktivitäten in einem engen Rahmen halten müssen. Andernfalls komme es zu Verhaftungen. Gerade in letzter Zeit hat der Druck noch zugenommen, Zusammenkünfte und Versammlungen wurden verboten und mehrere Leute verhaftet.
Haben Sie Kontakt zu Globalisierungsgegnern in anderen arabischen Ländern oder in Europa, zum Beispiel zu "Attac"?
Keileh: Es gibt erste Kontakte, sowohl auf arabischer wie auf internationaler Ebene. Etwa Versuche, die Aktivitäten in internationalem Rahmen mit "Attac" und mit dem "Forum für die Entschuldung der Dritten Welt" zu koordinieren, in dem wir Mitglied sind. Wir haben auch an den Weltsozialforen 2004 in Bombay und 2005 in Porto Allegre teilgenommen. Auf arabischer Ebene gibt es den Versuch, ein arabisches Sozialforum zu bilden. Wir haben am Vorbereitungstreffen in Kairo teilgenommen. Außerdem haben wir uns an der Vorbereitung und der Gründung des Mittelmeersozialforums beteiligt, das im Juni 2005 in Barcelona seinen Ausgang nahm.
Erhalten Sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland?
Keileh: Nein, es gibt derzeit keine finanzielle Unterstützung. Wir erhalten Spenden von unseren Mitgliedern, aber bis jetzt haben wir die Frage einer finanziellen Unterstützung noch nicht diskutiert. Der andere Punkt ist, dass wir auch keine Finanzierung akzeptieren würden von Seiten, die Bedingungen stellen und die eigentlich für die Globalisierung sind.
Die USA üben Druck auf Syrien aus. Wie gehen Sie damit um? Sehen Sie sich plötzlich mit dem "Feind" auf einer Seite?
Keileh: Der "Syria Accountability Act" ist unseren Zielen nicht zuträglich, weil er der Regierung einen Vorwand dafür liefern kann, jede oppositionelle oder nicht mit ihr übereinstimmende Bewegung zu beschuldigen, Kontakt zum Ausland zu haben. Insofern profitiert die Regierung in gewisser Weise davon, der "Syria Accountability Act" dient ihrem Selbsterhalt, indem die Regierung weder den Anderen noch eine Öffnung akzeptiert. Wir wissen, dass die amerikanische Politik normalerweise nicht den Zielen dient, die wir anstreben, wenn es etwa um Fragen zum Thema Menschenrechte, Demokratie oder Reformen geht oder auch um den Plan des "Greater Middle East". Wir glauben nicht, dass die Amerikaner es ernst meinen, es ist reine Demagogie, sie wollen ihre Politik und ihre Ziele, ihre Hegemonie und Vorherrschaft ausdehnen.
Globalisierungsgegnern wie Attac wird vorgeworfen, dass sie die Eigenarten der Entwicklungsländer nicht beachten, dass sie eurozentristisch denken. Wie sehen Sie das?
Keileh: Das trifft vielleicht auf einige Gruppen zu. Attac zum Beispiel drängt darauf, eine internationale Organisation zu gründen mit Untergruppen in den jeweiligen Ländern. Wir halten das für falsch, denn die Situation Frankreichs oder Europas in Bezug auf die Globalisierung unterscheidet sich vollkommen von der Situation im Süden. Nicht jede Strategie, die von Europa ausgeht, kann für den Süden nützlich sein. Ich glaube aber, dass in Europa das Bewusstsein über die Probleme des Südens weit fortgeschritten ist und dass sich durch den Dialog eine weltweite Strategie herauskristallisiert, die alle Probleme und Forderungen des Südens aufnimmt.
Interview und Übersetzung aus dem Arabischen: Larissa Bender
© Larissa Bender