"Globalisierung bedeutet Amerikanisierung"
Der Titel der Konferenz hieß "Identität versus Globalisierung?". Entspringt diese Frage der Angst um die eigene Identität angesichts der Globalisierung?
Pierre Abi-Saab: Die Logik der Globalisierung ist die Logik eines riesigen Marktes von Konsumgütern. Und dabei sind alle bedroht: Franzosen, Deutsche, Araber usw. Alle fühlen sich bedroht durch eine Invasion von Werten, Entwürfen und kulturellen Ausformungen, auf die sie keinen Einfluss haben. Das Grundsätzliche an dieser Frage ist zu wissen, inwieweit die Kultur dieser Bedrohung die Stirn bieten kann. Die Identität ähnelt angesichts einer solchen Herausforderung einer Muschel, die sich schließt, sobald sie von neuen Entwürfen von außen überrollt wird. Die Araber empfinden dies stärker als andere, aber auch der Franzose fühlt sich von Hamburgern und Fast-Food-Ketten, die seine Restaurants verdrängen, überrollt. Dies ist ein Beispiel für die Bedrohung der Identität, weil die französische Küche ein Teil der französischen Identität ist. Es gibt sicherlich eine Bedrohung der Identitäten, denn die Globalisierung verwischt sie alle und verwandelt sie in ein einziges Modell, in dem alle die gleichen Güter konsumieren, die gleiche Kleidung tragen und auf die gleiche Art denken.
Auf der Konferenz konnten wir feststellen, dass der Grad der Bedrohung durch die Globalisierung unterschiedlich ist. In Deutschland spricht man davon, ein Quotensystem beim Rundfunk für die Sprache der gespielten Musiktitel einzufügen, um einen Teil der deutschen Kultur zu erhalten. Sie haben heute von einer Globalisierung gesprochen, die die Identität ausradieren wird. Sie empfinden also eine Bedrohung Ihrer Identität?
Abi-Saab: Über das Quotensystem wurde im Rahmen der Diskussion über die WTO gesprochen, die bilaterale Verträge zwischen den Staaten schließt, die ihrerseits die betreffenden Staaten verpflichtet, keinen produktiven Sektor im jeweiligen Land zu subventionieren. Dies hat zum Ziel, Konkurrenz zu ermöglichen. Eine neue Charta - "Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt" -, die in der UNESCO bearbeitet wird und an der 130 Staaten beteiligt sind, fordert nun, die Kultur aus diesen Handelsverträgen auszunehmen. Dies bedeutet, die Kultur nicht als Konsumware zu betrachten. In diesem Zusammenhang war die Rede vom Quotensystem. Vor diesem Hintergrund sprach der ehemalige deutsche Kulturminister über den Schutz der nationalen Kultur vor der Invasion der aus den USA kommenden Musik, da die Macht der amerikanischen Musikindustrie in der Produktion und Vermarktung von Stars, Musiktiteln und -CDs die Möglichkeiten aller anderen Länder weit übersteigt. Die Frage die sich stellt, ist: inwieweit darf ein Staat seine nationale Kultur schützen, indem er die Kultur nicht als Ware behandelt. Die WTO fordert eine uneingeschränkte Handelsfreiheit, ohne jede Handhabe der Staaten, den Import von Waren zu steuern oder zu beschränken. Alle Händler bringen ihre Waren auf den Markt, und der Konsument kauft das, was er möchte. Das ist die liberale Logik, und es gibt deswegen Bemühungen, die Kultur davon auszunehmen.
Teilen Sie die Meinung, dass es hier einen Unterschied gibt? Die Europäer handeln auf gleicher Ebene mit den USA, Frankreich z.B. führt das Quotensystem ein und ist erfolgreich auf dem internationalen Popmarkt. Die Araber hingegen agieren nicht auf gleicher Augenhöhe, sondern aus der Position der schwächeren Kultur heraus, die in ihrer Existenz bedroht ist.
Abi-Saab: Die arabische Kultur ist bereits lange vor der Globalisierung bedroht gewesen. Die Illusionen, die die politischen Regime seit der Unabhängigkeit aufgebaut haben und die seit mehr als einem halben Jahrhundert bestehen – Freiheit, Sozialismus und die Befreiung Palästinas – sind plötzlich in sich zusammengefallen. Das arabische Volk und die politischen Bewegungen sind besorgt und fühlen sich schutzlos. Zudem gibt es systematische Bemühungen, die arabische Kultur mit all ihren Dimensionen im Kampf der israelischen Besatzung zu verwischen. Bereits dadurch ist die arabische Kultur bedroht davon, ausgelöscht zu werden, unabhängig von der Globalisierung. Der Ausdruck Globalisierung bedeutet in Wirklichkeit Amerikanisierung. Die Kultur von Coca Cola und McDonalds ist es, was verbreitet wird, und wir müssen uns solcher MacDonaldisierung widersetzen. Heute verfügen die USA, infolge der Verbreitungswege über das Internet und das Global Village, über die Mittel und die produktive Kraft, ein bestimmtes Modell zu propagieren, das die junge Generation rasch übernimmt.
Setzen Sie damit die Rolle der jungen Generation nicht herab? Und was ist mit der lokalen Kultur?
Abi-Saab: Ich möchte weder der jungen Generation noch irgendeinem Bürger oder Konsumenten etwas vorschreiben, ich möchte jedem die Wahl lassen, doch in der Schule, in der Erziehung, in Hörfunk und Fernsehen muss man ihm zeigen: dies ist deine Identität, erkenne sie und sei stolz auf sie, und gehe damit um, wie du es willst. Im Gegenteil, wer über Selbstbewusstsein verfügt, kann wilde Stürme und tosende Wellen bewältigen. Doch der Schwache und Zerbrechliche, der sich an einen kleinen Teil der Tradition klammert – wie es die Fundamentalisten tun – wird von jeder Welle weggespült.
Der grundlegende Widerstand entsteht mit dem Aufbau der Identität ohne jeden Fanatismus, aber mit einem gehörigen Selbstvertrauen. Nur der vermag widerstehen, der attackiert wird. Ihre Medien sind mächtig, und sie verbreiten über uns, was sie wollen. CNN zum Beispiel, jeder kann es empfangen, noch im kleinsten Dorf Ägyptens oder Algeriens, dieses Aufdrängen mit allem, was damit an Waren, Ideen, Werten, Modellen und Bildern einhergeht, das kann sicherlich die Identität verwischen. Dann wirst du ein Niemand! Alle sehen schließlich einander ähnlich, der Thailänder, der Holländer, alle. Alle konsumieren Hamburger und Coca Cola und sonst nichts. Dies steht der Weiterentwicklung der Menschheit und ihrer Bedürfnisbefriedigung entgegen. Was ist das für eine Globalisierung, die keinen Fortschritt verbreitet, sondern uns rückwärts treibt.
In Europa blickt man auf die Tradition, um darauf zu gründen und aufzubauen. Die Araber hingegen schauen im Allgemeinen auf die Vergangenheit, um in ihr ihre Zukunft zu finden, so als wollten sie die Vergangenheit kopieren. Wie können die Araber aus diesem Dilemma herauskommen, zumal Sie vom Versagen der Araber in der Verwirklichung der arabischen Moderne gesprochen haben?
Abi-Saab: Richtig! Die Zuflucht in der Vergangenheit zu suchen, ist die Folge des scheiternden Widerstands in der Gegenwart und der fehlenden Zukunftsperspektive. Eben weil wir mittellos sind, sind weder wirtschaftliche noch technologische oder militärische Strategien vorhanden. Wenn uns die Visionen fehlen, so werden wir sowohl gegenwärtig als auch an Zukunftsplänen und ihrer Umsetzung scheitern. Die Lösung für uns ist es, unser Konzept zu entwerfen: Was wollen wir von der Erziehung, von der Wirtschaft, von den Medien etc. Wir müssen unseren Platz in der Welt finden. Hier wird die Vergangenheit nicht mehr Zuflucht, sondern eine Quelle der Kraft sein.
Wir haben heute keine Erfinder oder Entwickler der Grundlagenwissenschaften, deswegen kehren wir zurück zu Al-Farabi und Averroes, der die hellenische und die griechische Philosophie ins Arabische übersetzte, die später in die europäischen Sprachen übersetzt wurden. Heute ist die Situation eine andere. Wir haben weder einen Averroes noch einen Avicenna oder Al-Farabi. Deshalb liegt die Verantwortung für den Aufbau bei jedem Einzelnen, jeder Gruppe, Partei oder Regierung. Wir können von der Vergangenheit und von allen Kulturen profitieren, ja sogar vom Feind. Wenn seine Technik für uns von Vorteil ist, warum sollten wir sie nicht anwenden? Dies fordert eine Öffnung, doch wir befinden uns in einem Abschottungszustand. Wir sind bezwungene Völker, die viel verloren haben, die von den eigenen Regimes, den Feinden und vom noch andauernden Kolonialismus ausgeblutet wurden.
In ihrem Vortrag erwähnten sie, dass die Elite die Verantwortung für die Kultur trage. Welche Rolle spielen die Intellektuellen in der arabischen Welt bei der Gestaltung einer Vision?
Abi Saab: Es gibt Einzelne, die kulturelle Visionen haben und auf der kulturellen Ebene arbeiten. Es gibt kreative Autoren, Übersetzer, Denker usw. Doch diese sind isoliert, jeder in seiner eigenen Umgebung und seinem Staat. Die Medien bieten ihnen keinen Raum. Die Stimmen, die wir hören, sind die, die die Oberhand haben. Wenn du schreist, hören dich alle, doch wenn du flüsterst, hört dich niemand. Heute dominiert der Lärm und übertönt die kreativen Stimmen. Aber dies ist kein unvermeidliches Schicksal. Es ist veränderbar. Die reine Stimme in der Kunst, der Literatur, dem Theater und Kino wird gehört. Der Film eines guten Regisseurs wird in irgendeinem arabischen Land oder irgendwo in der Welt gesehen. Das genügt zum Beispiel als Saat. Die Natur ist fruchtbar, aber wir müssen säen.
Vieles wird heute von den Medien bestimmt. Kulturelle Ereignisse, welcher Art auch immer, existieren nicht, wenn sie kein Echo in den Medien finden. Woher nehmen Sie ihren Optimismus, wo Sie doch selbst im medialen Bereich arbeiten?
Abi Saab: Ich meinte den Optimismus im absoluten Sinne. Wenn wir uns die arabische Lage anschauen, können wir nur pessimistisch sein. Aber ich setze auf das Prinzip des Lebens, das aus der Asche aufersteht und wieder beginnt aufzubauen. Wir sollten jedoch nicht zu optimistisch sein, weil es auch Kulturen gibt, die aussterben. Die arabische Sprache ist bedroht, die arabische Kultur ist bedroht. Das Zählen auf die Fruchtbarkeit der Natur und ihre Fähigkeit sich zu reproduzieren, ist ein Teil der Selbstmotivation, wo wir Kraft schöpfen, um weiterzumachen.
Die Medien sind das größte Desaster der arabischen Gegenwart. Es ist keine Schande, wenn sie kommerziell sind. Wir können nicht sagen, dass die Medien eine Mission haben und Profit verboten ist. Aber die Aufgabe der Medien ist, die Wahrheit zu sagen. Die arabischen Medien zeigen die Wahrheit jedoch nicht. Die arabischen Medien müssen wissen, dass sie eine Renaissance im kulturellen Sinne bewirken können. Wenn sie Debatten initiieren, die die junge Generation interessieren, wenn sie die Fragen der Zeit diskutieren: Bildung, Erziehung, Kultur, Wirtschaft, Politik und Religion. Dies bringt auch Profit. Es bringt materiellen Gewinn und belebt gleichzeitig Gesellschaft und Kultur. Man kann an einem medialen Projekt arbeiten und auf diese Renaissance setzen. Selbst Kapitalbesitzer und Konzerne. Dekadenz bringt Profit für wenige Jahre ein, dann aber verliert das Land seine vitale Kraft. Es degeneriert, es bleiben keine Gewinne mehr und das Kapital versandet.
Die konstruktive kapitalistische Mentalität besagt: will ich in diesen Boden investieren, dann muss ich veranlassen, dass er fruchtbar wird, so bringt er mir lange Jahre Gewinne, und ich kann ihn später vererben. Die Medien provozieren kühne Debatten, ein Beispiel ist der Erfolg des libanesischen Satellitensenders LBC. Die Sendung "Starakademie" hat der LBC letztes Jahr 180 Million Dollar eingebracht. Hätte der Kanal ein Programm über arabisches Theater ausgestrahlt, hätten nicht so viele zugeschaut und dies hätte nicht so viel Gewinn eingebracht. Aber von dem Gewinn von 180 Million Dollar konnte ein kulturelles Programm ausgestrahlt werden. "Starakademie" soll sein, wir fordern nicht, es zu verbieten. Wir sind für Freiheit und Demokratie. Doch die Medien sind verantwortlich dafür, ein niveauvolles kulturelles und politisches Programm anzubieten.
Inwieweit könnten die Medien in dieser Richtung beeinflusst werden?
Abi Saab: Die Lösungen sind individuell, wie es in Krisenzeiten und in totalitären Epochen immer ist. Da taucht ein Einzelner auf und spielt sein Spiel. Es gibt z.B. TV-Sprecher und Produzenten, die sich von anderen abheben. Ich bin für das Errichten von parallelen Netzen. Die Kulturzeitschrift "Zawaya" zum Beispiel verbreitet 15.000 Exemplare in den arabischen Ländern, dank der Bemühungen von Freiwilligen. Wir müssen Netze für bestimmte Projekte kreieren, mit Personen in den entsprechenden Positionen in den Medieninstitutionen, die aktiv arbeiten und versuchen, eine gewisse Rolle zu spielen. Diese Rolle kann wachsen und weitere Kanäle für sich öffnen. Der zweite Aspekt ist die Partnerschaft mit Europa.
Ich spreche von der Partnerschaft zwischen zwei ebenbürtigen Seiten, nicht zwischen einer starken, reichen, autonomen Seite und einem schwachen, armen, alles hinnehmenden Anderen. Es gibt mögliche Arten der Partnerschaft mit der EU und einigen europäischen Ländern; auch mit unabhängigen Stiftungen im Westen, die die Entwicklung einer alternativen Medienlandschaft und alternativer Programme unterstützen, die weniger stark sind als die herrschenden Konsummedien, die aber eine Rolle spielen und die eine Generation hervorbringen kann. Ich spreche hier von einer ganzen Generation, was nicht kurzfristig geschehen kann. Doch wenn wir den Grundstein legen, werden wir eine Generation sehen, die sich erheben kann.
Wenn Sie von ebenbürtiger Partnerschaft reden, was will das starke Europa als Gegenleistung für die Hilfe der schwachen Seite, wie schafft man eine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe?
Abi Saab: Die Welt sitzt heute im gleichen Boot, wenn auf einer Seite ein Loch entsteht, sinkt das Ganze. Europa hat von der Terrorwelle und von den Anschlägen auf das World Trade Centre usw. gelernt. Der Westen hat verstanden, dass er der arabischen Welt nicht fern bleiben kann. Er beutet sein Erdöl aus, benutzt eine Gruppe, um die Sowjetunion zu bekämpfen, und diese Gruppe richtet sich nun nach Ende der Sowjets gegen ihn. Der Westen hat verstanden, dass der Aufbau ausgewogenen Wachstums ihm auf lange Sicht nur von Vorteil sein wird. Wenn es also stabile Länder im Aufbau unterstützt, wird das für Europa auch von Nutzen sein.
Es gibt Institutionen in Holland, Deutschland Frankreich usw., die auf der Basis des gegenseitigen Respekts und der Gleichberechtigung finanzielle Unterstützung anbieten. Der Araber kann auf der Basis seiner Prinzipien wählen. Er kann es annehmen, wenn es keine Widersprüche gibt, sonst lehnt er ab, wenn er nicht nur auf Geld bedacht ist. Wir befinden uns in der Talsohle und können nicht weiter sinken. Wir müssen wieder hochkommen. Es gibt verschiedene Wege, um das in die Tat umzusetzen, der fundamentalistische, der nationale, der fortschrittliche usw. Nicht alle sind richtig, aber wir müssen an einer neuen Wiedergeburt arbeiten.
Das Interview führte Youssef Hijazi
Übersetzung aus dem Arabischen von Youssef Hijazi
© Qantara.de 2013
Pierre Abi-Saab ist libanesischer Journalist und Chefredakteur der Kulturzeitschrift Al-Zawaya.