"Teufel gibt es nicht"
Herr Rasoulof, in einem Interview mit dem Branchenblatt "Variety" haben Sie gesagt, Sie seien froh, dass der Film gedreht wurde und sich jetzt an einem sicheren Ort befindet.
Mohammad Rasoulof: Ja, während der Dreharbeiten stand ich unter großem psychischem und seelischem Druck. Ich wartete ja auch noch auf mein Urteil von der Berufungsinstanz. Ich bin morgens immer mit der Ungewissheit aufgewacht: Kommt heute wohl die Nachricht des Gerichts? Dann war es schließlich so weit: Das Berufungsgericht hat das Urteil der ersten Instanz bestätigt. Jetzt warte ich täglich auf Mitteilung, wann das Urteil vollstreckt wird. Die Ungewissheit ist quälend, aber man kann ihr nicht entrinnen.
Ihr Film besteht aus vier Erzählungen, die inhaltlich von der Todesstrafe zusammengehalten werden. In einem größeren Zusammenhang könnte man auch sagen, dass ihr Film von Widerstand handelt. Wie haben Sie diese Geschichten geschrieben? Hatten Sie das zentrale Thema im Kopf und wollten es dann aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten?
Rasoulof: Im Film geht es gar nicht in erster Linie um die Todesstrafe. Es geht darum, wie wir vor dem Hintergrund von Willkürherrschaft und Tyrannei Verantwortung für unser Handeln übernehmen können. Wie wir es vermeiden können, unmoralische Befehle zu befolgen, obwohl wir alle in einer Machtstruktur aus Unterdrückern und Unterdrückten gefangen sind.
Meine zentrale Frage im Film war: Übernehmen wir Verantwortung für unser Handeln? Oder schieben wir sie, um uns vor Gewissensbissen zu schützen, auf die herrschende Macht, die uns zwingt, gewisse Dinge zu tun? Viele Menschen sagen: Eigentlich möchten wir ja nicht, aber wir können nicht anders. Und viele, die protestieren und sagen, sie wären nicht zufrieden, haben ein warmes Plätzchen im System. Solche Menschen reden sich dann gerne ein, ihre Mitarbeit sei unbedeutend, und wenn sie es nicht tun würden, würde es ja ein anderer tun. Genau da liegt das Hauptaugenmerk des Films: auf der Übernahme von Verantwortung durch den Einzelnen vor dem Hintergrund von Willkürherrschaft.
Zweitens ist wichtig, dass die vier Geschichten in weiten Teilen von meinen eigenen Erfahrungen herrühren. Die erste Episode ist zum Beispiel entstanden, nachdem ich auf der Straße einem der Beamten begegnet war, die mich 2009 verhört hatten. Er sah mich nicht, ich ihn aber sehr wohl. Ich saß im Auto, er kam aus einer Bank heraus. Das war ein merkwürdiger Moment. Er ging dann zu seinem Auto, stieg ein, und ich fuhr ihm hinterher, mit vielen schwer zu fassenden Gefühlen im Bauch; irgendetwas zwischen Wut und Hass. Ich hatte Lust, ihn selbst, sein Auto und sein Nummernschild zu fotografieren oder ihm den Weg abzuschneiden und ihn anzuschreien.
Während ich ihn so verfolgte und mir die Bilder aus dem Gefängnis und von den Verhören durch den Kopf gingen, ist mir plötzlich aufgegangen, was das für ein normaler Mensch sein muss. Wie sehr er allen anderen ähnelt, denen man so auf der Straße begegnet. Er war kein Monster und kein Teufel, einfach nur ein Mensch, der unterwegs war, Bananen zu kaufen.
Und während ich ihn noch so anstarrte, drehte ich irgendwann einfach ab und fuhr nach Hause, an Hannah Arendt und die Banalität des Bösen denkend. Aus dieser zufälligen Begegnung ist der erste Teil meines Films entstanden. Bei den anderen drei Geschichten war es ähnlich.
In einem Teil des Films geht es um den Beruf der Hauptfigur, während die anderen drei Teile alle während des Wehrdienstes ihrer Protagonisten, mithin in einer Zwangssituation, spielen. Warum konzentrieren Sie sich so stark auf das Militärische?
Rasoulof: Der Wehrdienst ist ein Beispiel für eine Situation, in der ein Organ der Macht den Einzelnen das Recht auf freie Entscheidung nimmt. Als Iraner haben Sie nicht die Wahl, Sie müssen Wehrdienst leisten. Außerdem bricht der Wehrdienst mit seiner militärischen und autoritären Struktur die Persönlichkeit der Rekruten. Die Befehle stehen von vornherein fest und niemand hat das Recht, sich zu entscheiden. Sie müssen ohne Widerworte und Erklärungen das tun, was von Ihnen verlangt wird.
Bei meinen Nachforschungen zur Todesstrafe habe ich herausgefunden, dass in einigen Gefängnissen die Todesstrafen von Wehrdienstleistenden vollstreckt werden! Als Belohnung kriegen sie dafür einige Tage Urlaub und ein bisschen Taschengeld. Ein solches Belohnungssystem führt natürlich zu gesteigerter Gewalt. Solche Gewalt kann zwar in den gesetzlichen Bahnen verlaufen, aber wer fragt denn schon, ob die Gesetze wirklich gerecht sind?
Es gibt den Standpunkt, dass Gesetze nun mal Gesetze sind und selbst dann befolgt werden müssen, wenn sie nicht mit dem menschlichen Gewissen vereinbar sind. Ich halte das für falsch. Gesetze verdienen nur solange unsere Achtung, wie sie die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Leben in der Gesellschaft verbessern. Wenn sie aber dazu dienen, Gewalt zu fördern, und wenn in einer Gesellschaft die Todesstrafe zum Disziplinierungsinstrument verkommt, dann müssen sie ganz dringend überarbeitet werden.
[embed:render:embedded:node:39421]Sie selbst haben beschlossen, Widerstand zu leisten. Sie haben sogar gesagt, der Widerstand mache sie glücklich.
Rasoulof: Glücklich ist hier nicht das richtige Wort. Das stammt aus einem Interview mit einem ausländischen Kinovertrieb und wurde falsch übersetzt. Genauer will ich sagen, dass ich lieber Widerstand leiste, als mich dem Zensurapparat geschlagen zu geben. Das gibt mir ein Gefühl der inneren Ruhe, weil ich so mir selbst treu bleiben kann. Wer in einem tyrannischen System er selbst bleiben möchte, der muss einen hohen Preis zahlen. Was mich beruhigt, ist, dass ich versuche, diese Struktur nicht hinzunehmen, sondern Änderungen zu bewirken. Dieses Bestreben stellt mich zufrieden. Davon abgesehen ist natürlich vieles nicht so, wie ich es mir wünsche.
Im vierten Teil muss ein Mann seiner Tochter erklären, warum er den Gehorsam verweigert hat, obwohl es der Familie so viele Nachteile eingebracht hat. In dieser Szene fragt man sich: Sind das nicht Sie? Hört man da durch die Figur nicht Ihre eigene Rechtfertigung?
Rasoulof: Nachdem ich zum ersten Mal im Gefängnis gewesen war, habe ich meine Familie gebeten, das Land zu verlassen. Ich wollte das eigentlich nicht, aber ich konnte ihre ständigen Ängste und Qualen nicht mehr mit ansehen. Die Auswanderung war zwar ein Ausweg, sie hat aber natürlich ihren eigenen Preis gefordert. Wegen meiner diversen Ausreiseverbote bin ich oft von meiner Familie getrennt gewesen. Das hat meiner Beziehung zu meiner Tochter geschadet. Es ist kompliziert: Ich muss meiner Tochter erklären, warum ich so gehandelt habe, wie ich es getan habe. Und jetzt ist sie es, die für etwas büßt, was sie sich nie ausgesucht hat. Das ärgert mich. Diese merkwürdige Zwiespältigkeit beschäftigt mich seit Jahren, und ich finde keine zufriedenstellende Antwort auf dieses Problem.
Das Gespräch führte Maryam Mirza.
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