"Bilder bis zum Sieg?"
Herr Mroué, durch die Nutzung digitaler Technologie wird die Realität heutzutage auf filmische Weise dargestellt: Sie wird inszeniert und durch Kameralinsen oder an Bildschirmen betrachtet. In "The Pixelated Revolution" vergleichen Sie die Videos der syrischen Protestierenden mit der Avantgarde-Filmbewegung "Dogma 95". Wo besteht für Sie der Zusammenhang?
Rabih Mroué: Als ich mit den Videos der syrischen Protestierenden zu arbeiten begann, bemerkte ich, dass unter den Aktivisten Anweisungen und Ratschläge kursierten, wie man eine Demonstration sicher filmt. Sie empfehlen zum Beispiel "keine Stative zu benutzen", "sich nicht um die Qualität der Bilder zu scheren", "keine Gesichter zu filmen". Ich habe die Hinweise gesammelt und daraus eine Liste zusammengestellt. Sie hatte für mich den Charakter eines Manifests, wie man einen Film drehen sollte. Es erinnerte mich an das dänische Filmmanifest "Dogma 95", mit dem sich die Filmemacher von den Zwängen des Mainstreams befreien wollten, um alternative Kinofilme zu drehen, unabhängig vom Markt, von Zensur oder Klischees. Das wiederum ähnelte den Grundsätzen der Protestbewegung und dem Ziel der Protestierenden, sich vom Ba'ath -Regime zu befreien.
"The Pixelated Revolution" zufolge haben die syrischen Protestierenden buchstäblich ihren eigenen Tod gefilmt. Können wir bei dieser von Technologie gefilterten Wahrnehmung noch auf unsere Sinne vertrauen? Wird die Technologie auf eine Art zu einer Erweiterung unseres Körpers?
Mroué: Lassen Sie es mich so sagen: Es hat mit bestimmten Gewohnheiten zu tun, wie zum Beispiel damit, durch etwas hindurchzusehen. Die Filmgeschichte liefert uns da ein gutes Beispiel: Als Kinozuschauer zum ersten Mal einen Zug direkt auf die Kamera zufahren sahen, dachten sie, der Zug würde aus der Leinwand springen. Sie ergriffen die Flucht, weil sie bis dahin noch keine Bildsequenzen kannten, die den Eindruck von Bewegung vermittelten. Als Fernsehen und Live-Übertragungen neu waren, mussten wir uns auch erst daran gewöhnen.
Wir lernen also nur nach und nach, diese Technologien richtig zu sehen und einzuordnen. Wenn die Protestierenden mit ihren Handys filmen, sie sich vor die Augen halten und durch die Linse gucken, um das Geschehen zu verfolgen, versteht das Auge noch nicht, was es auf dem winzigen Bildschirm sieht. Deshalb kann es dem Gehirn nicht die nötigen Signale zu senden, um sofort zu reagieren. Und deshalb sind die Protestierenden nicht weggerannt, als sie sahen, dass das Gewehr sie ins Visier nahm. Ich denke, wir müssen uns beibringen, Technologien zu nutzen. Das braucht Zeit.
Für mich ist "The Pixelated Revolution" eine "Revolution mit niedriger Auflösung". Bekommen diese verwackelten, unscharfen, ungeschnittenen Videos einen anderen "Wert", wenn sie in Museen oder anderen Kunsträumen gezeigt werden?
Mroué: Eigentlich war das Ziel dieser Videos, über das Geschehen zu berichten. In Syrien fehlte es damals an professionellen Journalisten. Außerdem hatte das Regime das Land fest in der Hand, wodurch den Journalisten eine Berichterstattung aus Sicht der Protestierenden kaum möglich war. Darum wurde jeder zum Reporter. Aus deren Material entstand sofort eine eigene Form des Widerstands. Die Videos wurden ins Netz gestellt, damit jeder auf sie zugreifen und mit ihnen arbeiten konnte. Die Urheber blieben anonym, die Filme gehörten allen. Das Regime setzte sie sogar gegen die Protestierenden ein.
Für mich war das eine Einladung, mit diesem Material zu arbeiten. Ich erkannte jedoch, dass mit der Nutzung immer eine Verantwortung einhergeht. Als Künstler muss man sich überlegen, was man daraus machen kann, wie man es präsentiert und welche Bedeutung man ihm zuschreibt. Es war natürlich überhaupt nicht meine Absicht, diese ganzen Videos aus dem Netz zu ziehen und sie in einem institutionellen Rahmen, wie zum Beispiel einem Museum, zu zeigen. Aber genau das ist passiert. Am Anfang wollte ich eigentlich nur eine öffentliche Vorführung veranstalten wie die Lecture-Performance vom Oktober 2015 in der UdK Berlin (Universität der Künste).
Mittlerweile gibt es zwei Arten von Bildern: die mit hoher und die mit niedriger Auflösung. Zu Beginn sah es so aus, als würden sie sich bekriegen, aber mittlerweile ergänzen sie sich. Egal ob in der Kunstwelt, dem Kino oder dem Fernsehen, heute werden beide Arten von Bildern genutzt.
In ihrem Essay "The Revolution Will Be Performed. Cameras and Mass Protests in the Perspective of Contemporary Art" vergleicht Katarzyna Ruchel-Stockmans Ihre Arbeit mit Harun Farockis und Andrei Ujicăs Videogramme einer Revolution (1992), einem Dokumentarfilm über die Revolution in Rumänien 1989, der die erste vom Fernsehen übertragene Revolution porträtiert. "The Pixelated Revolution" ist eine digitale und virtuelle Revolution, da sie sich im Internet abspielt. Ist es heute möglich, mit digitalen Medien eine echte Revolution in Gang zu setzen?
Mroué: Al Jazeera hat eine Sendung über den Arabischen Frühling gemacht, die hieß "Bilder bis zum Sieg", eine Anspielung auf die Parole der palästinensischen Revolution "Revolution bis zum Sieg". Für meine Lecture-Performance habe ich den Al-Jazeera-Titel übernommen und ein Fragezeichen dahinter gesetzt. Ich wollte damit sagen: "Nein, Revolution kann man nicht mit Bildern machen."
Während der Revolution in Rumänien besetzten die Leute die Studios des Staatsfernsehens und sendeten von dort Erklärungen, so als hätten sie das ganze Land eingenommen. Farocki und Ujică zeigten uns, dass sich die Revolutionäre der Bedeutung des Fernsehens für die Revolution bewusst waren. Darum haben sie die Fernsehstudios besetzt und das Programm bestimmt. Es war ein symbolischer Akt, aber es trug tatsächlich maßgeblich zum Zusammenbruch des Regimes und zur Mobilisierung der Bevölkerung bei. Ich denke, das Internet ist dazu nicht in der Lage. Digitale Daten sind so verstreut, so vereinzelt, besonders für die Protestierenden. Sie lassen sich nicht kontrollieren. Wir können sie nutzen, aber diejenigen an der Macht können sie sich sofort zu eigen machen und sie gegen uns verwenden. Das ist nicht wie ein Fernsehstudio, ein physischer Ort, ein Gebäude, das man besetzen kann. Digitales Material steckt voller Überraschungen. Manchmal ist es beschädigt und man kann nur die Hälfte sehen, manchmal friert das Bild ein oder es verschwindet einfach wieder. Es ist etwas Virtuelles, was man nicht richtig greifen kann. Es ist anfällig, wurzellos und liegt irgendwo in den Kabeln verborgen.
Das Interview führte Katerina Valdivia Bruch.
© Goethe Institut 2017
Rabih Mroué (1967, Beirut) ist Schauspieler, Regisseur, Theaterautor, bildender Künstler und Herausgeber der Zeitschrift "The Drama Review" (TDR) und der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift "Kalamon". Er ist außerdem Mitbegründer und Vorstandsmitglied des "Beirut Art Centre" (BAC).