Die andere Zeitenwende

Bundesaussenministerin, aufgenommen bei einem Pressestaatement vor dem Hintergrund der israelischen, europäischen und deutschen Flaggen
Außenministerin Baerbock hat ihren Ton gegenüber Netanjahu verschärft, aber das reicht nicht. Foto: picture alliance / photothek | T. Trutschel

Deutschland hat sich mit seiner Haltung im Nahostkrieg weltweit isoliert und viel Vertrauen verspielt. Die Ampel-Regierung wird bald Geschichte sein, aber die Folgen ihres außenpolitischen Versagens werden wir noch lange zu spüren bekommen.

Von Daniel Bax

Der brutale Angriff der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober 2023 war eine Zäsur – auch für Deutschland. Dass er zu einer politischen Zeitenwende führen würde, war allen Fachleuten vom ersten Moment an klar. Zu lange hat die Welt den ungelösten Nahostkonflikt verdrängt und Schritte zu einer politischen Lösung vertagt. Nur in Deutschland scheinen viele bis heute nicht begriffen zu haben, was für einen historischen Einschnitt der 7. Oktober und der Krieg in Gaza darstellen. Anders ist nicht zu erklären, dass die deutsche Politik bis heute nicht angemessen darauf reagiert hat – oder falsch. Das ist fatal.  

Natürlich war es richtig, dass sich die Bundesregierung und der gesamte Bundestag zunächst an die Seite Israels gestellt und dessen Recht auf Selbstverteidigung bekräftigt haben. Schon sehr früh war allerdings klar, dass die israelische Regierung und die Armee mit völlig unverhältnismäßiger Härte reagieren und kaum Rücksicht auf Zivilist:innen nehmen würden. Darauf hätte die deutsche Politik viel früher und viel entschiedener reagieren müssen.  

Als Olaf Scholz im Oktober 2023 als erster europäischer Regierungschef zum Solidaritätsbesuch nach Israel reiste, bezeichnete sein Amtskollege Netanjahu die Hamas als „neue Nazis“, ohne dass der Bundeskanzler widersprach. Wenig später bemühte Netanjahu die Legende von Amalek, um den Krieg in Gaza in religiöser Metaphorik zu einem Kampf mit dem absolut Bösen zu erklären. Israels Verteidigungsminister Joav Gallant ordnete bereits am 9. Oktober eine vollständige Blockade des Gazastreifens an: kein Strom, keine Lebensmittel und kein Treibstoff sollten mehr in die Enklave gelangen – er kündigte damit ein eindeutiges Kriegsverbrechen an.  

Demonstrant hält eine Karikatur von Netanjahu und Scholz in der Hand
Pro-Palästina-Demo am Jahrestag des Hamas-Terrorangriffs am 7. Oktober 2024, in Frankfurt/M. Die Stadt hatte die Demo verboten, doch die Anmelderin ging dagegen vor und bekam vor Gericht Recht. Foto: picture alliance / epd-bild | T. Wegner

„Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“, so beschrieb der israelische Armeesprecher Daniel Hagari bereits ganz zu Beginn die Militärstrategie seiner Armee. Und Israels Präsident Jitzchak Herzog erklärte die gesamte Bevölkerung Gazas für schuldig und damit die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern für überflüssig. Später versah er Bomben, die über dem Gazastreifen abgeworfen wurden, mit einer persönlichen Widmung

Es ist kein Zufall, dass sich all das in den Anklageschriften wiederfindet, über die jetzt in Den Haag verhandelt wird. Südafrika sieht darin Nachweise für genozidale Absichten und hat Israel deshalb bereits Ende 2023 vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Völkermord angeklagt. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim Khan, hat zudem im Mai 2024 Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant beantragt, weil er sie für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza verantwortlich macht.  

Medien und Menschenrechtsorganisationen werfen Israel vor, in Gaza eine Vielzahl von Kriegsverbrechen begangen zu haben: von willkürlichen Bombardements ohne jede Rücksicht auf Zivilisten bis hin zu Angriffen auf Krankenhäuser, Klärwerke, Universitäten und Schulen – kurz: auf die zivile Infrastruktur. Dies macht den Gazastreifen unbewohnbar. Hinzu kommen „Folterlager“ für Gefangene , wie die Menschenrechtsorganisation B’Tselem berichtet, sowie das gezielte Aushungern der Bevölkerung.   

Netanjahu zieht Israels Verbündete in den Abgrund

Auf all das hat die deutsche Politik bisher nicht angemessen reagiert. Selbst US-Präsident Joe Biden hat sich kritischer zum israelischen Vorgehen geäußert als der deutsche Bundeskanzler. Er bezeichnete Israels Bombardement als „willkürlich“ und warnte schon früh, Israel solle nicht die gleichen Fehler begehen wie die USA nach dem 11. September.  

Bidens Warnung verhallte leider ungehört und der US-Präsident selbst ließ seinen Worten keine Taten folgen, um Israel zu bremsen. Netanjahu fühlte sich dadurch ermutigt, auch im Libanon mit voller Härte zuzuschlagen. Wie die USA nach dem 11. September zieht nun auch Israel seine Verbündeten mit seiner Kriegsführung immer tiefer in einen moralischen Abgrund.  

Das wird Folgen haben: Das Rennen um die US-Präsidentschaftswahl im November ist noch offen. Der Krieg hat die Demokratische Partei in den USA tief gespalten. Joe Biden wurde als „Genocide Joe“ geschmäht, weil er nicht genug gegen das massenhafte Sterben in Gaza getan hat. Es ist noch unklar, ob sich Kamala Harris im Wahlkampf aus seinem Schatten wird befreien können.  

In Deutschland hat die Ampel-Regierung – mit der sozialdemokratischen SPD und den Grünen – im Schlepptau der USA ebenfalls Schaden genommen. Ihr könnte es so ergehen wie einst der Labour-Partei unter Tony Blair: Nachdem sich der britische Premier im Irakkrieg 2003 vorbehaltlos an die Seite der USA gestellt hatte, war sein Ruf ruiniert. Seine Partei hat sich davon lange nicht erholt. Nachdem Labour die Macht verlor, stellte die Partei für viele Jahre keine Regierung mehr – zu viel Vertrauen war zerstört worden. Auch die Ampel-Parteien haben viel Vertrauen verloren, sind in den Umfragen und den letzten Landtagswahlen stark eingebrochen.  

Netanyahu schüttelt Bundeskanzler Scholz die Hand
Hat weltweit an Glaubwürdigkeit verloren: Olaf Scholz (r.), hier zu Besuch bei Netanjahu im März. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | L. Correa

Im Ausland hat sich Deutschland mit seiner Haltung zu Israel zudem stark isoliert. In der UN-Vollversammlung ist es eines der letzten Länder, das noch zu Netanjahu hält. Südafrikas „Genozid“-Vorwurf gegen Israel wischte die Bundesregierung vom Tisch und sprang Israel zur Seite. Inzwischen haben sich nach Chile und Mexiko auch Irland und Spanien der Klage vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen angeschlossen – ein Zeichen dafür, wie gespalten Europa in dieser Frage ist.  

Im April sah sich Deutschland selbst auf der Anklagebank, weil Nicaragua es wegen Beihilfe zum „Völkermord“ angeklagt hatte. Die Forderung, deutsche Waffenexporte nach Israel zu stoppen, wies das Gericht in seiner Eilentscheidung zwar ab, doch es ist klar, dass große Teile der Weltöffentlichkeit Deutschland eine Mitschuld an den vielen Toten im Gazastreifen geben, weil es dessen enger Verbündeter und zweitgrößter Waffenlieferant ist.  

Es sind nicht nur arabische oder muslimische Staaten, in denen Deutschland deswegen stark an Ansehen eingebüßt hat. Die internationalen Gerichtsverfahren zeigen, dass das auch für viele Länder in Südamerika und Afrika gilt, also für große Teile des „globalen Südens“. Es seien „vor allem die progressiven, die kritischen Zivilgesellschaften, die sich jetzt abwenden von einer als unglaubwürdig wahrgenommenen Bundesrepublik“, warnten die Politologen Marcus Schneider und Jannis Grimm im Juni in einem Essay im IPG Journal. Die deutsche Politik reagiert darauf in Vogel-Strauß-Manier: Sie steckt den Kopf in den Sand und hofft, dass das vorbei geht. Das ist Realitätsverweigerung.  

Autoritäre Tendenzen in Deutschland

Während Deutschland an Ansehen verliert, kämpft die deutsche Politik im Inneren immer verbissener darum, eine vermeintliche „Staatsräson“ durchzusetzen, deren Sinn mit jedem Tag fragwürdiger erscheint. Dabei zeigt sie eine autoritäre Unduldsamkeit und immer stärkere illiberale Tendenzen. Mehrere Proteste an Universitäten und ein ganzer Palästina-Kongress wurden mit Polizeigewalt aufgelöst, kritische Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und andere Intellektuelle ausgeladen oder mit „Antisemitismusklauseln“ und anderen fragwürdigen Mitteln auf Linie gebracht. Dass im Bildungsministerium geprüft wurde, ob man unbotmäßigen Wissenschaftler:innen, die diese Politik kritisiert hatten, bereits zugesagte Fördermittel wieder entziehen könne, passt in das Bild zunehmend autoritärer Tendenzen.  

Die deutsche Politik geht mit solchen illiberalen Schritten viel weiter als die USA, kritisierte der deutsch-britische Journalist und Deutschland-Experte Hans Kundnani bereits im März in einem Essay im Magazin Dissent. Deutschland begründe das mit seiner historischen Verantwortung für den Holocaust, aber seine spezielle Lesart der Geschichte sei mit universalistischen Werten nicht zu vereinen. Die Philosophin Susan Neiman, die einst ein Buch geschrieben hatte, in dem sie die deutsche Erinnerungspolitik preiste, spricht nun von einem „verordneten Philosemitismus“ und, wie andere, von einem proisralischen „McCarthyismus“. Der Politologe Daniel Marwecki spricht von einem „Ersatznationalismus“ und warnt, Deutschland müsse sich zwischen Staatsräson und Völkerrecht entscheiden.  

Angesichts von Übergriffen auf Synagogen und antisemitischen Slogans war es selbstverständlich und notwendig, dass deutsche Politiker sich schützend vor Jüdinnen und Juden in Deutschland stellten und diese Straftaten einhellig verurteilten. Doch ein Wort des Mitgefühls gegenüber hiesigen Palästinenser:innen, die oft selbst Angehörige verloren haben, um die Menschen im Gazastreifen bangen und zugleich unter Pauschalverdacht gestellt werden, kommt vielen bis heute nicht über die Lippen. Dabei werden die Folgen des Kriegs in Gaza noch lange spürbar sein. Ein vollständiger Wiederaufbau der Enklave könnte 80 Jahre dauern, schätzen UN-Expert:innen. Die Traumata werden über Generationen nachwirken.   

Demonstrant hält Schild hoch, der ein Ende der Waffenlieferungen an Israel fordert
Waffenlieferungen haben Netanjahu ermutigt, den offenen Krieg noch auszuweiten – Demo in Tübingen, April 2024. Foto: picture alliance / Pressebildagentur Ulmer | M. Ulmer

Deutschland muss sich entscheiden, was es mit seiner Staatsräson meint. Meint es die Solidarität mit jenen Menschen in Israel und Palästina, die sich Sicherheit, Frieden und ein Ende des Dauerkonflikts wünschen? Dann sollte man endlich einen Kurswechsel wagen, ein Waffenembargo gegen Israel verhängen und mehr Druck ausüben, bis Netanjahu einlenkt, statt ihm freie Hand zu lassen, den Krieg auch noch auf den Libanon und andere Länder auszuweiten.

Oder will man weiter eine in Teilen rechtsradikale Regierung unterstützen, in der manche aus ihren Vertreibungsplänen und Auslöschungsfantasien keinen Hehl machen? Damit hält man auch einen Regierungschef im Amt, der kein Interesse daran hat, dass der Krieg endet, weil er sich sonst viele unangenehme Fragen stellen lassen müsste und sogar im Gefängnis landen könnte. 

Olaf Scholz und seine Außenministerin Annalena Baerbock haben ihren Ton gegenüber Netanjahu in den vergangenen Monaten verändert. Vizekanzler Robert Habeck hat sogar eingeräumt, dass Israels Vorgehen in Gaza nicht mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Aber das reicht nicht. Ohne die Druckmittel einzusetzen, über die Deutschland verfügt, bleiben das leere Worte. Die Ampel-Regierung wird schon bald Geschichte sein. Aber an den Folgen ihres außenpolitischen Versagens in diesem historischen Moment werden wir noch sehr lange zu tragen haben.

© Qantara.de 2024