"Wir müssen verhindern, dass Terroristen geboren werden"
Herr Bouzid, Ihr Film erzählt die Geschichte eines jungen Breakdancers, der zum Selbstmörder wird. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?
Nouri Bouzid: Weil ich in diesem Thema die beste Möglichkeit gesehen habe, die Verlorenheit der arabischen Jugend zum Ausdruck zu bringen, die Verlorenheit auf geistiger Ebene sowie die Verzweiflung in ökonomischer Hinsicht. Außerdem ist es das Thema unserer Zeit.
Der Film ist ein ganzes Jahr in Tunis zurückgehalten worden unter dem Vorwand, dass dieses Thema fremd sei für unser Land. Aber gleich nachdem er in Karthago gezeigt wurde und den ersten Preis erhielt, gab es in Tunesien terroristische Anschläge und viele Terroristen wurden verhaftet. Das Seltsame ist auch, dass einer der Verantwortlichen für die Anschläge sehr dem Protagonisten des Films gleicht, auch er war Tänzer, allerdings in Nachtclubs.
Der Protagonist im Film entwickelt sich sehr schnell zu einem Anhänger der Islamisten. Obwohl er bis zum Abitur die Schule besucht hat, wirkt er äußerst naiv. Glauben Sie wirklich, dass diese Veränderung sich so rasch vollziehen kann?
Bouzid: Natürlich, wie erklären Sie sich sonst die Ereignisse vom 11. September? Das passiert täglich. Warum gibt man den jungen Arabern keine Visa ins Ausland? Die Gefahr ist einfach immer da. Jeder Araber ist verdächtig, zu einem Terroristen zu werden ...
Verdächtig, aber es ist ja keine zwangsläufige Entwicklung ...
Bouzid: Aber dieser Zweifel kommt ja nicht von ungefähr. Es gibt Gründe, es gibt Erfahrungen. Meiner Meinung nach muss man davon ausgehen, und da liegt die Gefahr. Wir müssen uns auf diese Art der Verwandlung einstellen.
Welches sind denn die Faktoren, die die arabischen Jugendlichen dazu treiben, Terroristen zu werden? Schließlich werden es ja nicht alle.
Bouzid: Lassen Sie uns auf die Reden Bin Ladens kommen. Ich habe sie in Vorbereitung des Films studiert. Bin Laden sagt: "Wir müssen diese Jugendlichen anwerben, wenn sie sich in einer verzweifelten Situation befinden, wenn sie in unlösbaren Problemen versinken oder wenn sie in Gefahr sind. Und wir müssen sie anwerben, bevor sie heiraten, damit sie nicht gebunden sind." Wenn er sagt: "bevor sie heiraten", dann bedeutet das seiner Meinung nach, bevor sie ein Mädchen kennen lernen.
Es gibt also innere Gründe, das heißt, die besonderen Umstände der Jugendlichen, ihr Scheitern, ihre Verzweiflung, die Unmöglichkeit, ins Ausland zu gehen.
Aber es gibt auch äußere Faktoren, wie der Irakkrieg und selbst der Krieg im Libanon und die Palästinafrage. Diese Faktoren spielen alle eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung der Menschen, und besonders der Jugend.
Warum hat sich der Held im Film im Hafen in die Luft gesprenge. Warum haben Sie, als Regisseur, ihn zum Beispiel nicht in den Irak geschickt, wohin viele Jugendliche heute zum kämpfen gehen?
Bouzid: Er hat diesen Weg gewählt. Außerdem möchte ich nicht einen Film machen über Ereignisse, die stattgefunden haben. Ich möchte nicht hinter den Ereignissen herlaufen, sondern ihnen zuvorkommen. Was hätte ich sonst Neues gesagt? Ich wollte ausdrücken, dass wir auch an einem Ort, der sicher erscheint, auf der Hut sein müssen.
Während der Diskussionen über den Film habe ich mit fünf oder sechs Jugendlichen gesprochen, und jeder wollte mir seine Geschichte erzählen. Sie sagten: "Die Geschichte, die Sie im Film erzählen, ist meine Geschichte. Aber ich bin ihnen entkommen, ich war bereit zu gehen, doch plötzlich habe ich gezögert und Angst bekommen."
Das Problem ist, dass die Medien nicht über die Jugendlichen berichten, die sich weigern, sondern nur über die tatsächlich verübten Anschläge. Aber die Zahl der Verweigerer ist zehn oder zwanzig Mal größer.
Mein Ziel war es, ein Beispiel zu geben von jenen, die sich weigern, zum Mörder zu werden, von jenen, die es mit der Angst bekommen. Die Hauptfigur im Film hat sich geweigert, zum Mörder zu werden.
War der Protagonist im Film noch nicht bereit fürs Töten oder hat er sich geweigert?
Bouzid: Das ist das Gleiche. Weil er Angst bekam, ein Mörder zu werden, und weil er gleichzeitig gegen alles rebellierte.
Und warum sprengte er sich im Hafen in die Luft? Weil von diesem Ort die Flucht ins Ausland möglich ist. Und das war es, was er sich ersehnte. Diese Idee hatte er noch nicht aus seinem Kopf verbannt.
Und da wir uns in einem Film befinden, musste ich ein Ende finden, das einem Film angemessen ist. Deshalb habe ich den größten Hafen im Süden Tunesiens gewählt. Ich wollte, dass er wie eine Maus in der Falle sitzt. Und ich wollte, dass er allein stirbt und dass er das Mitgefühl des Publikums und mein Mitgefühl hat. Ich wollte, dass er bis zuletzt Opfer ist, und zwar das einzige Opfer seiner Tat.
Meinen Sie, dass die Jugendlichen, die sich in die Luft sprengen oder zum Märtyrer werden wollen, immer nur Opfer sind. Welche Rolle spielt die Verantwortung?
Bouzid: Die Verantwortung ist klar im Film. Ich zeige mit dem Finger darauf. Wir alle sind verantwortlich: die Polizei ist verantwortlich, die fehlende Freiheit ist verantwortlich, die familiäre Struktur, das Scheitern des Ausbildungssystems ..., all diese Faktoren tragen Verantwortung.
Wir alle haben den Jugendlichen vorbereitet und die Islamisten haben ihn "gepflückt". Die Islamisten können gar nichts machen, wenn der Jugendliche nicht bereit ist. Deshalb sage ich, dass die konkreten gesellschaftlichen Umstände für diese Verwandlung sehr wichtig sind. Er ist ein Opfer, aber gleichzeitig ist er verantwortlich.
Aber Mitgefühl mit ihm ist wichtig, denn im Gegensatz zum westlichen Blick auf den Kampf gegen den Terror müssen wir den Jugendlichen mit Liebe begegnen, um sie zu retten. Unser Kampf gegen den Terror besteht nicht nur darin, Attentate zu verhindern, sondern wir müssen verhindern, dass Terroristen geboren werden.
Wir müssen sie vor der Durchführung des Anschlags retten. Wir müssen ihnen einen Teil des Paradieses auf Erden geben, damit sie nicht davon träumen, sich für ein verlorenes Paradies zu opfern.
Sie haben gesagt, dass Sie für den Film die Reden Bin Ladens gelesen haben. Habe Sie auch mit Islamisten in Tunesien gesprochen?
Bouzid: Nicht in Tunesien, sondern in Belgien und in Marokko, bevor sie dort verboten wurden, also vor den Anschlägen in London. Meine Freunde in Belgien haben mir geholfen, mit Leuten in Kontakt zu kommen, damit ich verstand, wie diese Jugendlichen angeworben und nach Afghanistan geschickt werden, wie sie ausgewählt werden, was sie tun.
Die meisten haben studiert oder waren gekommen, um zu studieren. Sie werben die Jugendlichen an, die Probleme mit der Regierung haben, die zum Beispiel aus dem Gefängnis entlassen wurden, wo sie wegen Drogendelikten oder Prostitution saßen. Diese Jugendlichen fallen ihren Familien zur Last.
Man hat mir in Belgien erzählt, dass die Islamisten den Familien einen Betrag von zehntausend Dollar geben. Und die Familien freuen sich, weil die Islamisten die Jugendlichen mitnehmen und retten. Sie freuen sich, dass ihre Kinder weggehen, weil sie eine Schande für die Familien geworden sind.
Vergessen Sie auch nicht, dass die Religion eine immer größere Bedeutung für die Menschen bekommen hat aufgrund der Haltung des Westens gegenüber dem Islam. Denn es gibt keinen Muslim, ich eingeschlossen, obgleich ich Atheist aus Überzeugung bin, der eine Kritik am Islam von den Christen akzeptiert. Der Islam ist meine Kultur und ein Teil meiner Persönlichkeit. Warum beleidigen sie den Islam und nicht das Christentum?
Kritik und Beleidigung sind zwei unterschiedliche Dinge.
Bouzid: Ich meine, die Kritik dessen, was heilig ist. Das geht nicht. Wenn Sie als Christin dabei helfen wollen, dass der Islam aus seiner Krise herauskommt, dann kritisieren sie ihn nicht. Ermutigen Sie die Muslime, ihn zu kritisieren. Denn die Reaktion wird ins Gegenteil umschlagen. Das geht Sie doch nichts an. Was haben Sie als Christin mit dem Islam zu tun? Ich erlaube mir auch nicht, die jüdische Religion zu kritisieren.
Die Religion oder die heiligen Dinge?
Bouzid: Den grundlegenden Text, den Koran.
Aber es ist erlaubt, den Umgang der Muslime mit ihrer Religion zu kritisieren?
Bouzid: Ja, wenn es auf vernünftige Weise geschieht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Mohammad-Karikaturen sind bestimmt ein Ausdruck der Freiheit. Bestimmt haben diejenigen, die sie verteidigt haben, die Ausdrucksfreiheit verteidigt. Aber sie müssen verstehen, dass diese Art der Verteidigung der Ausdrucksfreiheit Terroristen produziert. Sie können wählen: Wollen Sie die Freiheit des Ausdrucks, die Terroristen gebärt, oder ein Eindämmen der terroristischen Strömung? Warum sollen die Leute über etwas Heiliges lachen? Die Reaktion wird ins Gegenteil umschlagen.
Aber wenn in einer europäischen Zeitung zum Beispiel Jesus verspottet wird, wird das zwar Kritik zur Folge haben, aber keinen Terror. Wo ist der Unterschied?
Bouzid: Das Christentum hat Lösungen für seine Probleme gefunden und eine religiöse Reform durchgeführt. Das haben wir noch nicht.
Braucht der Islam also Ihrer Meinung nach eine Reform?
Bouzid: Natürlich, aber von innen und nicht von den Christen. Erteilen Sie mir keine Lektion über das, was mir heilig ist. Ermutigen Sie die Muslime oder die muslimischen Araber aller Gruppierungen, diese Reform durchzuführen. Das ist wichtig.
Aber dass der Papst daherkommt und den Islam kritisiert, das geht nicht. Im Westen haben sie nicht verstanden, dass die muslimischen Jugendlichen keine Kritik an dem dulden, was ihnen heilig ist. Sie habe nicht verstanden, dass sie das provoziert. Das führt dazu, dass der arabische Jugendliche, der verunsichert ist, bereit ist, einen ehrenvollen Tod zu sterben. Wenn man das nicht verstanden hat, hat man den Terrorismus nicht verstanden.
Interview u. Übersetzung aus dem Arabischen: Larissa Bender
© Qantara.de 2007
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