Grenzen austesten
Worum geht es in Ihrem Dokumentarfilm?
Mona El Naggar: Ich wollte mehr über die Ideologie der Muslimbrüder erfahren und darüber, wie sie ihre Ideen unters Volk bringen, und zwar aus der Perspektive der ganz normalen Leute. Im Film geht es um eine Wohlfahrtsorganisation, die von den Muslimbrüdern finanziert wird. Zum Kursangebot des Familienzentrums gehören Ehevorbereitungskurse. Die Teilnehmer sind meist unverheiratete junge Leute zwischen zwanzig und dreißig. Der Kursleiter ist hauptberuflich Professor für Botanik an einer Kairoer Universität. Er ist selbst ein Mitglied der Muslimbrüder und hält die Vorträge ehrenamtlich. Mein Film zeigt, wie seine Vorträge die traditionellen, frauenfeindlichen Geschlechterrollen und die rückschrittliche Ideologie der Muslimbrüder unterstützen. Man sieht dabei auch, wie die Muslimbrüder die einfachen Leute begeistern können, wie sie mit ihnen reden und wie sie ihr Denken über bestimmte Themen steuern.
Die Organisation der Muslimbruderschaft steht im Ruf, nicht gerade transparent zu sein. Wie haben Sie es geschafft, an den Kursen teilzunehmen und sogar während der Kurse zu filmen?
El Naggar: Ich bin einfach hingegangen. Vorher hatte ich die Koordinatorin des Zentrums um Erlaubnis gefragt. Zu meiner Überraschung war sie sofort einverstanden. Auch der Referent gab spontan seine Erlaubnis. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren ebenfalls einverstanden, bis auf einen jungen Mann, der nicht wollte, dass ich seine Verlobte filme. Wir vereinbarten, dass ich weder ihn noch seine Verlobte filmen würde.
Der Kurs, in dem sie gefilmt haben, trug den Titel "arus wa ariis didd ibliis". Wörtlich bedeutet das: "Braut und Bräutigam gemeinsam gegen den Satan". Wie klingt dieser Titel für ägyptische Ohren?
El Naggar: Für europäische Ohren klingt das sicher seltsam. Aber auf Arabisch, vor allem auf Ägyptisch-Arabisch, hat dieser Titel definitiv eine humorvolle Konnotation – wegen des Reims, weil er kurz ist. Ich glaube, dass dieser Titel jung und witzig wirken soll, damit junge Leute sich für den Kurs interessieren.
Der Referent erklärt unter anderem, dass verheiratete Frauen nicht arbeiten gehen sollen, auch wenn sie ihre Universitätsausbildung noch so brillant abgeschlossen haben. Er sagt, dass Frauen mit dem Herzen denken und Männer mit dem Hirn. Außerdem behauptet er, dass Frauen am meisten von der Polygamie profitieren, denn "keine Gebärmutter solle leer bleiben". Wie haben Sie es geschafft, sich das anzuhören und dabei ruhig zu bleiben?
El Naggar: Auch das mag sich für europäische Ohren fremd anhören, aber die meisten dieser Ideen gelten in Ägypten nicht einmal als radikal. Junge Ägypter hören so etwas an jeder Straßenecke oder im Fernsehen. Was mich wirklich betroffen gemacht hat, war die Art und Weise, wie der Referent seinen Vortrag hielt. Nachfragen oder kritisches Selberdenken waren überhaupt nicht erwünscht. Dabei gibt es eine gewaltige Kluft zwischen solchen idealisierten Geschlechterrollen und der Wirklichkeit in Ägypten. Hunderttausende Frauen in Ägypten bringen ihre Familien allein durch. Sie haben gar nicht die Möglichkeit, nicht zu arbeiten.
In ihrem Film nehmen Sie ein junges Pärchen besonders in den Blick, das kurz vor der Verlobung steht. Die beiden hören im Klassenraum ohne Widerspruch zu. Doch im Anschluss ist aus ihren Gesprächen herauszuhören, dass sie längst nicht alles überzeugt – vor allem hinsichtlich der Frage, ob der künftige Ehemann bis zu vier Frauen haben darf.
El Naggar: Ich bin sehr glücklich, dass ich diesen kleinen verbalen Flirt mit der Kamera filmen konnte. Die beiden waren sehr verliebt. Er neckt sie, indem er sie fragt, was sie davon hielte, wenn er noch weitere Ehefrauen nähme. Sie stellt sein Recht nicht grundsätzlich in Frage, aber sie sagt ihm ganz deutlich, dass sie das sehr verletzen würde. Es ist ganz klar, dass dieser junge Mann keine weiteren Frauen heiraten will, und dass sie auch nicht die Frau ist, die ihrem Mann eine Nebenfrau erlauben würde. Und doch glaubt sie daran, dass Gott ihrem künftigen Mann das Recht gegeben hat, vier Frauen zu heiraten. Sie streitet nicht mit ihm darüber. Aber sie wird keine weitere Frau akzeptieren. Ich fand, dass dieser kleine Flirt sehr viel aussagte.
Der Referent spricht sehr direkt über Sexualität. Er zeichnet die unterschiedlichen Orgasmuskurven von Männern und Frauen auf eine Tafel und erklärt, dass eine Frau multiple Orgasmen erleben kann, sofern der Sex gut ist. Als Zuschauerin aus dem Westen ist man an dieser Stelle etwas schockiert. Wie passt das zu den tief sitzenden Tabus in Ägypten?
El Naggar: Ehrlich gesagt, war auch ich schockiert über diese Sitzung, und einigen Teilnehmern erging es ganz ähnlich. Man muss bedenken, dass es in Ägypten gar keinen Sexualkundeunterricht an Schulen gibt. Die Muslimbrüder sind praktisch die einzigen, die solche Kurse anbieten. Für den Referenten ist Sex kein Tabu, weil nach seinem religiösen Verständnis Sex nichts Böses ist. Nach islamischem Verständnis ist Sexualität völlig in Ordnung, solange sie sich in den Grenzen der Ehe bewegt. Dennoch habe ich gespürt, dass vor allem die jungen Frauen im Seminarraum sich nicht wohlfühlten. Als ich die Kamera abschaltete, kam die Ehefrau des Referenten herein. Sie nahm die jungen Frauen mit in einen Nebenraum und hat sie dort getrennt weiter unterrichtet.
Warum haben Sie Ihren Film "Istislam" (Unterwerfung) genannt?
El Naggar: "Istislam" bedeutet Ergebenheit, aber es gibt auch die Bedeutung von "Selbstaufgabe", "Unterwerfung" oder "Kapitulation". Ich möchte diesen Begriff nicht übermäßig mit Bedeutung aufladen. Die Idee kam mir, als eine der jungen Frauen aus dem Seminar mir erklärte, dass für sie die Religion gleichbedeutend mit "Submission" war. Der Film zeigt "Unterwerfung" auf verschiedenen Ebenen: in der Religion, in Liebesbeziehungen, in der Familie, im Unterricht, in politischen Organisationen und im Staat. All diese Varianten der Unterwerfung führen mich zu derselben Frage: Warum geben wir unsere Fähigkeit zum eigenständigen Denken auf, zum Hinterfragen scheinbar absoluter Wahrheiten? Warum schaffen wir keine Alternativen?
Wenn wir von dieser Warte aus die ägyptische Revolution betrachten, dann ging es also nicht um Freiheit, sondern um Unterwerfung?
El Naggar: Zweifellos gibt es einen Widerspruch zwischen der Bereitschaft, sich zu unterwerfen und dem Streben nach Freiheit. Ich denke, dass die Revolution unterschiedlich gedeutet wird. Freiheit ist ein sehr romantisches Konzept. In Ägypten wünschen sich viele Menschen nur einen Job oder ein Verkehrssystem, das in intaktem Zustand ist. Sie wünschen sich Freiheit, aber für sie heißt das vor allem: frei sein von Kopfschmerzen und Problemen.
Bis heute kann man nicht mit Sicherheit sagen, dass die Ägypter in irgendeiner Form wirkliche Freiheit erlangt haben. Sie beanspruchen den öffentlichen Raum für sich, die Freiheit, ihre Meinung zu sagen, sich zu organisieren. Alles hängt in der Luft, und die Situation ist sehr chaotisch. Aber es kommt auch vieles zum Vorschein, was vorher verborgen war: die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Menschen, ihre Vorstellungen von Identität, vom Ägyptertum und in welchen Maße Religion dabei eine Rolle spielt. Das sind historische Debatten, wobei in Ägypten solche Debatten noch nie wirklich offen geführt werden konnten. Es ist ein Austesten, für die Leute und für das Land.
Interview & Übersetzung aus dem Englischen: Martina Sabra
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de