"Wir müssen jetzt schon über den Wiederaufbau nachdenken“
Frau Heinze, der Jemen erlebt derzeit eine der schlimmsten humanitären Katastrophen unserer Zeit. Doch in deutschen Medien wird kaum darüber berichtet. Woher kommt diese Ignoranz?
Marie-Christine Heinze: Ich würde es nicht Ignoranz nennen. Wir haben es hier einfach mit einem hochkomplexen und schwer verständlichen Konflikt zu tun. Es gibt kaum deutsche Journalistinnen und Journalisten, die sich mit den Hintergründen auskennen. Der Jemen ist zudem weit weg und es kommen nur wenige Flüchtlinge zu uns, daher ist die Aufmerksamkeit für diesen Konflikt nicht so groß. Und noch etwas spielt eine Rolle: Bei vielen Deutschen ist eine Art Sättigungsgefühl eingetreten, was Krisen in anderen Teilen der Welt betrifft. Das ist bedauerlich, denn dieser Krieg geht uns schon deshalb etwas an, weil die Bundesregierung Waffenlieferungen an kriegsführende Staaten zu verantworten hat.
Einerseits liefert die Bundesregierung Waffen, andererseits zählt Deutschland zu den größten humanitären Geberländern in Jemen...
Heinze: Ja, und 80 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen! Die Vereinten Nationen hatten für 2020 rund 3,38 Milliarden US-Dollar an humanitärer Hilfe für Jemen veranschlagt. Doch von diesen dringend benötigten Hilfen waren bis Dezember gerade mal 1,6 Milliarden Dollar eingetroffen. Das liegt unter anderem daran, dass die Golfstaaten, die selbst direkt am Jemenkrieg beteiligt sind, sich teilweise oder vollständig als Geberländer zurückgezogen haben. Laut der UN-Organisation OCHA hatten Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate im Jahr 2018 noch jeweils 25 Millionen US-Dollar an Hilfen geleistet.
Spielt die EU als soft power eine Rolle in diesem Konflikt?
Heinze: In puncto Stabilisierung und Friedensförderung spielt die EU schon eine Rolle im Jemen. Aber sie ist kein global player, der die Macht hätte, den Konflikt zu beenden. Im Jemen gibt es nicht den einen Akteur, der so viel Einfluss hat, dass er alle involvierten Parteien dazu bringen könnte, sich an Abmachungen und Verträge zu halten. Die USA haben sich, genau wie Großbritannien, schon sehr früh auf eine Seite geschlagen.
Damit haben sie die Chance vertan, Einfluss auf die andere Seite, die Huthis, ausüben zu können. Donald Trump hat die Huthis während seiner letzten Tage im Amt auf die Terrorliste gesetzt und auch schon vorherige Regierungen haben den Jemen nur unter dem Blickwinkel des Anti-Terrorkampfes gesehen. Ich habe die Hoffnung, dass sich das unter Präsident Biden ändert.
Niemand kann sich Lebensmittel leisten
Betrachtet man die Zahlen von Hilfsorganisationen zum Jemen, so wird einem schwindelig. Rund 20 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung, mehr als 3,6 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht im eigenen Land, die Ernährungslage ist katastrophal, mehr als eine halbe Million Kleinkinder sind akut unterernährt. Die Welthungerhilfe warnt, in der ersten Jahreshälfte 2021 werde sich die Zahl der Hungernden im Jemen auf 16,2 Millionen erhöhen. Ist daran die saudische Blockade des Hafens von al-Hodeida, durch den wichtige Lebensmittel ins Land gelangen, schuld?
Heinze: Ich finde diese pauschale Verurteilung der saudischen Blockade problematisch. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin in überhaupt kein Fan Saudi-Arabiens. Aber wir müssen fair bleiben: Die Blockade ist nur ein Element in einer sehr viel größeren Gemengelage. Der Jemen muss 90 Prozent seiner Lebensmittel importieren. Aber seit Beginn des Konflikts vor sechs Jahren haben die Importeure zunehmend Schwierigkeiten, Kredite zu erhalten.
Auch steigen die Kosten für Inspektionen und ähnliches und es gibt eine extreme Inflation des jemenitischen Rial, vor allem im Süden des Landes. Da die Menschen oft monatelang auf die Auszahlung ihrer Gehälter warten und die Arbeitslosigkeit dramatisch hoch ist, gibt es einen krassen Rückgang der Kaufkraft. Finanzpolitische Fehler, die gemacht wurden, die Zerstörung der Infrastruktur – da kommt vieles zusammen.
Um es kurz zu machen: Überall im Land liegen die Lebensmittel auf den Märkten zum Verkauf bereit. Aber die Menschen können sie sich schlicht nicht leisten. Und jetzt kommt noch Corona hinzu! Im Jemen weiß man vor lauter Problemen gar nicht, wo man anfangen soll…
Ende Dezember wurde eine neue Regierung vereidigt, in der nun der Norden und der Süden mit einer gleichen Anzahl von Mitgliedern repräsentiert sind. Stimmt Sie das hoffnungsfroh?
Heinze: Nicht wirklich. Die neue Regierung ist in sich gespalten, schon jetzt ist das Misstrauen untereinander groß. Und noch nicht mal in grundlegenden Fragen herrscht Einigkeit. Ein Teil der Minister ist für eine Abspaltung des Südens, ein anderer für die Einheit. Ende Dezember gab es einen versuchten Anschlag auf das neu gebildete Regierungskabinett am Flughafen Aden.
Man hätte glauben können, dieser Anschlag schweißt die Regierungsmitglieder zusammen, aber das Gegenteil ist eingetreten: Die unterschiedlichen Parteien haben sich gegenseitig beschuldigt, hinter dem Anschlag zu stecken. Dennoch setzen viele Jemeniten große Hoffnungen in diese Regierung. Es ist immerhin ein kleiner Fortschritt, dass sich die Lager auf eine Regierung einigen konnten.
Die große Frage für einen möglichen Friedensprozess lautet jetzt: Werden die Parteien in der Lage sein, eine gemeinsame Friedensdelegation zu stellen, die versucht, eine Lösung mit den Huthis auszuhandeln? Wenn das nicht klappt, ist denkbar, dass es zu einer De-Facto-Teilung des Jemen in einen nördlichen und einen südlichen Staat kommt, ähnlich wie in Somalia.
Den Wiederaufbau vorbereiten
Sie leiten ein akademisches Austauschprojekt mit der Universität Sanaa zu “Post-conflict Reconstruction im Jemen“. Ein Ende des Krieges ist noch gar nicht absehbar und Sie denken schon über den Wiederaufbau nach?
Heinze: Das muss man jetzt machen, nicht wenn es soweit ist! Deshalb haben wir, deutsche und jemenitische Wissenschaftler, ein Ausbildungsprogramm für jemenitische Masterstudenten gestartet. In erster Linie sind das junge Frauen und Männer, die berufsbegleitend studieren und für internationale Organisationen im Land arbeiten. Im Winter 2019 fand im jordanischen Amman eine von uns organisierte Winter School mit deutschen und jemenitischen Studierenden statt; im vergangenen Jahr lief aufgrund der Pandemie alles digital.
Aber hier haben wir dennoch 25 junge Frauen und Männer in einem Seminar zu Fragen des Wiederaufbaus unterrichtet. Doch leider liegt das aktuelle Projekt nun für ein paar Wochen auf Eis. Wir warten auf eine Verlängerung der DAAD-Förderung, erst danach kann es weitergehen.
Wie muss ich mir ein solches Studium mitten im Krieg vorstellen?
Heinze: Wir sind von „Post-conflict Reconstruction“ nicht so weit entfernt, wie das auf den ersten Blick scheint. Nicht alle Regionen sind gleich stark von Zerstörungen und Kriegshandlungen betroffen. Die östlichen Landesteile etwa waren gar nicht von militärischen Auseinandersetzungen geprägt. Und im Süden finden jetzt schon Wiederaufbauprojekte statt, beispielsweise in Regionen, aus denen die Huthis vertrieben worden sind. Auch in der Hafenstadt Aden ist das zum Teil der Fall.
Welche Themen diskutieren Sie konkret in Ihren Seminaren?
Heinze: Es geht um das gesamte politische und gesellschaftliche Leben: Von ökonomischen Aspekten über gute Regierungsführung bis hin zu Nachhaltigkeit, Stichwort green recovery (nachhaltige Erholung nach den Krieg). Auch Versöhnung, Traumabewältigung und Fragen einer Übergangsjustiz zählen zu unseren Themen. Besonders eine Reform des Sicherheitssektors ist wichtig, an dieses Thema traut sich sonst niemand heran, darüber darf im Jemen überhaupt nicht geredet werden.
Warum ist das ein so sensibles Thema?
Heinze: Es gibt keinerlei parlamentarische Kontrolle des Sicherheitssektors. Ähnlich wie in anderen arabischen und nordafrikanischen Ländern haben Polizei und Militär eine große Machtfülle und bilden fast eine Art Staat im Staate. In der Vergangenheit wurden hochrangige Posten im Sicherheitssektor mit Verwandten und Freunden des Präsidenten besetzt. Das System galt als unantastbar. Aber in einem Transitionsprozess muss man auch über solche Fragen reden können – auch wenn es Jahrzehnte dauern kann, bis sich etwas ändert.
Westliche Konzepte helfen nicht weiter
Wie könnte eine sinnvolle Reform des Sicherheitssektors aussehen?
Heinze: Es gibt im Jemen viele Stämme, die auf lokaler Ebene für Sicherheit sorgen. Sie könnten einbezogen werden. In einem so armen Land wie dem Jemen sollte nicht alles Geld ins Polizei- und Militärbudget fließen, wie es momentan der Fall ist. Die Regierung sollte stattdessen andere, sinnvolle Investitionen tätigen und die Sicherheitsstrukturen, die es auf lokaler Ebene gibt, nutzen und einbinden.
Das würde auch dabei helfen, Vertrauen zwischen Staat und Bevölkerung wachsen zu lassen. Nötig ist außerdem ein Umdenken in den Köpfen: Die Sicherheitskräfte müssen die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten – nicht die des Regimes.
Nun ist es natürlich eine Elite, mit der Sie zusammenarbeiten. Wie kommt all das an den Mann und an die Frau, die vielleicht in erster Linie ums Überleben kämpfen?
Heinze: Meine jemenitischen Kollegen haben etwa im Themenfeld Übergangsjustiz und Versöhnungsprozesse wichtige Ansätze entwickelt, indem sie die Religion einbeziehen, die eine bedeutende Rolle im Jemen spielt. Der Kollege Abdulsalam al-Rubaidi versucht beispielsweise, internationale Konzepte von Gerechtigkeit mit religiösen Gerechtigkeitsvorstellungen zusammen zu bringen und zusammen zu denken. Denn klar ist: Wenn wir da mit unseren westlichen Konzepten ankommen, interessiert das nicht viele Menschen. Von daher ist es toll für mich, von ihm zu lernen.
Welche Rolle spielen jemenitische Frauen bei ziviler Konfliktlösung und Friedensarbeit?
Heinze: Frauen spielen eine ganz wichtige Rolle. Viele Jemenitinnen sind im Laufe des Konflikts berufstätig geworden, sie arbeiten vor allem bei Hilfsorganisationen. Frauen können relativ problemlos in die Haushalte gehen, sich erkundigen, was dort besonders gebraucht wird, und dies dann an die Hilfsorganisationen melden. Für jemenitische Männer wären solche Besuche schwieriger; wenn eine Frau mit ihren Kindern alleine zuhause ist, wäre es aufgrund der Vorstellungen von Ehre und Anstand für einen fremden Mann unmöglich, mit ihr zu sprechen.
Für Frauen ist das auch eine Chance, zum Familienunterhalt beizutragen – sehr zum Leidwesen der jungen Männer. Viele Männer haben das Gefühl, sie würden bei der Verteilung der wenigen Jobs, die es gibt, übergangen. Das ist für sie ein ernsthaftes Problem. Denn von einem Mann wird erwartet, genug Geld zu verdienen, um heiraten und eine Familie ernähren zu können. Doch wie soll das gehen, wenn die Frauen die Jobs bekommen?
Frauen sind unterrepräsentiert, bewegen aber viel
Politisch haben jemenitische Frauen aber das Nachsehen, oder? Die neue Regierung besteht ja nur aus Männern…
Heinze: Das stimmt, und das hat im Jemen auch für Empörung in den sozialen Netzwerken gesorgt. Einige Feministinnen haben diesen Umstand angeprangert. Andere sehen das pragmatischer und sagen: „Diese Regierung ist ohnehin korrupt – warum sollten wir uns darum streiten, da mit- zumachen? Mit ein, zwei Frauen an der Spitze erreichen wir keine Gleichberechtigung.“
Es gab in der Vergangenheit bereits einzelne Politikerinnen an der Spitze, aber das hat die Bedingungen für die Teilhabe von Frauen nicht nachhaltig verbessert. Immerhin: In der Nationalen Dialogkonferenz, die während des letztendlich gescheiterten Übergangsprozesses tagte, wurde eine 30-prozentige Quote für Frauen in Regierungspositionen beschlossen. Mir ist es wichtig zu betonen, dass Frauen im Jemen vielleicht keine weithin sichtbaren, repräsentativen Rollen innehaben, aber dennoch viel bewegen.
In welchen Bereichen?
Heinze: Frauen spielen immer wieder eine wichtige Rolle in der Konfliktmediation. Sie sind zum Beispiel auch immer wieder an der Schlichtung lokaler Konflikte um Wasser und Land beteiligt. Sie vermitteln beim Austausch von Gefangenen oder sie gehen selbst in Gefängnisse und versorgen Häftlinge mit Essen. Und: Sie versuchen, die Familien, Nachbarschaften und Dörfer zusammenzuhalten. Der Krieg hat tiefe Risse in der Gesellschaft hinterlassen. Diese ziehen sich durch Gemeinden, aber auch durch Familien.
Es sind oft die Frauen, die trotzdem auf persönlicher Ebene Brücken schlagen können. Ein Beispiel: Wenn die Nachbarn politisch anders denken, kann das im Krieg leicht zu Spannungen, Misstrauen und Hass führen. Wenn eine Frau aber trotzdem ihre Nachbarin besucht, fragt, wie sie über die Runden kommt und man sich auf dieser nachbarschaftlichen Ebene gegenseitig unterstützt, trägt das maßgeblich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Das ist kein Aktivismus, sondern alltägliche Arbeit, die aber enorm wichtig ist und deren Bedeutung von uns nicht genügend wahrgenommen wird.
Was erwarten Sie in dieser Hinsicht von der internationalen Gemeinschaft?
Heinze: Grundsätzlich benötigt es von außen keine Intervention für diese Art von Arbeit, sie könnte sogar kontraproduktiv sein. Aber Hilfe für Traumabewältigung oder aber die Ermöglichung eines Austauschs unter den Frauen über Nachbarschaftsgrenzen hinweg könnte diese alltägliche Arbeit von Frauen weiter unterstützen.
Sie arbeiten seit 2008 als Beraterin zu Entwicklung, Frieden und politischem Wandel im Jemen. Ist es nicht frustrierend, Friedensförderung zu betreiben, während die Bundesregierung (über Umwege) Waffen an direkt im Krieg involvierte Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate liefert?
Heinze: Klar, das frustriert mich. Wenn wir schon Kriterien und Standards haben zu der Frage, in welche Länder Rüstungsgüter geliefert werden dürfen, sollten diese auch eingehalten werden. Zumal bekannt ist, dass die Vereinigten Arabischen Emirate im Jemen Geheimgefängnisse unterhalten, und dass alle in den Krieg involvierten Länder den Tod von Zivilisten in Kauf nehmen.
Gab es in den letzten Jahren trotz Krieg auch Lichtblicke, Momente, in denen Sie gemerkt haben: Hier verändert sich etwas zum Guten?
Heinze: (schweigt zunächst). Ich habe kaum Hoffnung, dass der Konflikt in naher Zukunft gelöst werden kann. Aber kleinere Entwicklungen auf lokaler Ebene sind mutmachend, beispielsweise in der Provinz Ma‘rib: Dort gibt es große Öl- und Gasvorkommen, und der lokale Gouverneur hat den Präsidenten davon überzeugt, dass die Einnahmen daraus zum Teil in der Provinz verbleiben sollten.
Das ist gelungen, und plötzlich boomt die Region: Eine Universität ist entstanden, aus einem einst kleinen Städtchen ist eine riesige Stadt mit regem Handel geworden. Das zeigt: Wenn Gelder für lokale Projekte bereitgestellt werden, wenn die richtigen Leute am Hebel sitzen und sie die Freiheit haben zu gestalten, bewegt sich etwas. Das sind in all der Dunkelheit kleine Lichtblicke, auf denen man aufbauen kann.
Interview: Elisa Rheinheimer-Chabbi
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Marie-Christine Heinze ist Vorsitzende des Forschungszentrums CARPO (Center for Applied Research in Partnership with the Orient) in Bonn. Sie hat Islamwissenschaft, Politikwissenschaft, Völker- und Europarecht sowie Friedens- und Sicherheitsforschung studiert und 2015 an der Universität Bielefeld über materielle Kultur und sozio-politischen Wandel im Jemen promoviert.
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