''Die Idee der Demokratie wird jetzt von anderen neu definiert''
Von welchen politischen Kräften gehen Gefahren für die demokratischen Bewegungen in den arabischen Ländern aus?
Hamid Dabashi: Die größte Gefahr geht von den Kräften aus, die durch die demokratischen Aufstände an Einfluss verlieren werden. Das sind die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, vor allem die NATO, Israel und mittelalterliche arabische Potentaten wie Saudi-Arabien. Doch auch die Islamische Republik Iran, die auf den ersten Blick ein Gegner der USA und ihrer regionalen und europäischen Alliierten zu sein scheint, gehört zu den Verlierern.
Letztendlich ist sie Teil desselben politischen Vokabulars, derselben Geopolitik. Die Islamische Republik hat in der Region durch die imperialistische Abenteuer der USA und ihrer Verbündeten zunehmend an Macht gewonnen. So wird nicht nur Iran als Verlierer der gegenwärtigen Umbrüche eine Bedrohung für die demokratischen Bewegungen darstellen, sondern auch seine drei Verbündeten: die Hamas, Hisbollah und die Mahdi-Armee von Muqtada as-Sadr im Irak.
Es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass sich die Hamas unter Einfluss der demokratischen Aufstände der Fatah angenähert hat, und die Fatah versucht, eine authentischere, umfassendere, basisdemokratischere Haltung anzunehmen.
Wogegen richten sich die Aufstände?
Dabashi: In einem Essay, den ich vor zwei Monaten für Al Jazeera geschrieben habe, habe ich die Aufstände als verspäteten Widerstand bezeichnet.
Es sind alles post-koloniale Gesellschaften, von Marokko bis Syrien, denen eine Art von innerstaatlicher Tyrannei, die nach Ende des europäischen Kolonialismus entstand, gemeinsam ist. Es sind falsche und künstliche postkoloniale Staaten.
Die besten Beispiele sind Gaddafi oder Mugabe. Schauen Sie sich diese Tyrannen an, die sich selbst als anti-kolonial darstellen und vierzig Jahre lang ihre Länder ausgebeutet haben ohne den leisesten Anschein von demokratischen Institutionen oder Wandel.
In diesen Teilen der Welt revoltieren die Menschen erstens: gegen den Kolonialismus, der diese Bedingungen hervorgebracht hat, zweitens: gegen die innerstaatlichen Tyranneien, die die koloniale Vergangenheit geerbt haben, und drittens: gegen das derzeitige imperialistische Projekt, das den gesamten Globus lenken will. Die Tatsache, dass diese Revolten stattfinden, ist eine Konsequenz des dysfunktionalen globalen Kapitalismus, der systematisch Armut produziert.
Sehen Sie Verbindungen zwischen der Grünen Bewegung in Iran und den Revolten in den arabischen Ländern?
Dabashi: Es interessiert mich nicht, wer wen beeinflusst hat. Im Juli 2009, kurz nach den Präsidentschaftswahlen in Iran, habe ich in einem Interview mit Al Jazeera gesagt: Wäre ich in einer Machtposition in einem Land von Marokko bis Syrien, würde ich die Geschehnisse in Iran sehr aufmerksam verfolgen. Damit meinte ich, dass der demographische Wandel in Iran identisch mit dem demographischen Wandel in der gesamten arabischen Welt ist.
Wir sprechen über eine junge Bevölkerung. Sie ist jung aufgrund einer sinkenden Kindersterblichkeit ohne einen entsprechenden Anstieg in der Lebenserwartung. Eine junge Bevölkerung, die keine Zukunft in ihrem Land hat, die genug davon hat, erniedrigt und von der globalen Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Sie wollen nicht auswandern, um dann noch mehr Anfeindungen und Rassismus in Europa und Nordamerika zu erfahren, sie wollen ihre Gesellschaften zurückgewinnen, ihre Kultur, ihre Politik.
Demzufolge sind die Ereignisse von 2009 in Iran und die derzeitigen Proteste in der arabischen Welt eher der identische Ausdruck einer ähnlichen sozialen, ökonomischen und politischen Umwelt, als dass das eine das andere beeinflusst.
Vor diesem Hintergrund gibt es aber auch keinen Zweifel, dass die Ereignisse von 2009/2010 in Iran an ein globales Publikum gerichtet waren. Junge Araber haben sie gesehen, wie andere junge Menschen auf der Welt auch.
Es gibt keinen Zweifel darüber, dass dies eine Inspiration für junge arabische Männer und Frauen war, in ihren Ländern das zu tun, was zuvor die Iraner unternommen hatten. Dennoch würde ich dies nicht als direkten Einfluss sehen, sondern vielmehr als Inspiration.
Was war neu und inspirierend an der Grünen Bewegung, außer den Kommunikationsmitteln?
Dabashi: Als die Präsidentschaftswahlen 2009 in Iran anstanden, dachte ich, dass die Resultate unbedeutend sein würden, da die Geopolitik in der Region so unermesslich wichtig ist.
Doch die Grüne Bewegung rückte die Innenpolitik wieder in den Blickpunkt, und stellte damit der regionalen Geopolitik ein Bein. Die Islamische Republik konnte die Straßendemonstrationen der Grünen Bewegung einigermaßen, aber nicht die Grüne Bewegung als Ganzes unterdrücken, denn sie ist tief verwurzelt und basisdemokratisch, und sie wird sich auf die eine oder andere Art immer wieder manifestieren.
Für mich sind ihre institutionellen Verankerungen in Arbeitergewerkschaften, Frauenrechts- und Studentenorganisationen relevant.
Welche Auswirkungen hatten die arabischen Aufstände auf Iran – auch im Hinblick auf die Geopolitik der Region?
Dabashi: Ich denke, dass diese demokratischen Aufstände auf die Ereignisse in Iran wie ein Katalysator gewirkt haben, insbesondere auf die geopolitische Schwächung der Islamischen Republik, insofern, dass die Islamische Republik zurzeit sowohl Feinde wie Ägypten, Tunesien und Jordanien als auch Alliierte wie Syrien verliert.
Sollte Syrien durch die demokratischen Aufstände verloren werden, wird die Verbindung zwischen der Islamischen Republik und der Hisbollah gekappt. Die Verbindung zur Hamas ist bereits wackelig, wegen der Koalition zwischen Hamas und Fatah. Damit bringt auch die Tatsache, dass ihre Feinde – Israel, die USA und Saudi-Arabien – in Schwierigkeiten stecken, der Islamischen Republik keinen Nutzen.
Was allen innerstaatlichen Tyranneien schadet, egal ob sie den USA freundlich gesinnt oder mit ihnen verfeindet sind, ist das Phänomen, das wir zurzeit beobachten: die sich wandelnde DNA der regionalen Geopolitik.
Wie können die revolutionären Aufstände ihre Ziele, nämlich Bürgerrechte und Demokratisierung vorantreiben?
Dabashi: Was die Kontinuität und den Erfolg dieser Bewegungen garantieren kann, ist Sorgfalt, Wachsamkeit und die Institutionalisierung der demokratischen Aufstände. Diese revolutionären Aufstände sind meiner Ansicht nach ergebnisoffen, und es ist gut, dass sie ergebnisoffen sind.
Es ist gut, dass sie nicht damit beendet sind, dass eine Statue fällt und eine andere Flagge hochgezogen wird. In ihrer ergebnisoffenen Art fordern und produzieren sie basisdemokratische Institutionen, die für mich, wie ich immer wieder betone, definiert werden durch diese drei basisdemokratischen Bewegungen: Arbeiterbewegungen, die Arbeiter im Sinne ihrer Rechte auf Rente, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit usw. schützen, indem sie Solidarität zwischen den Arbeitern begründen.
Das gleiche gilt für die Rechte von Frauen und Studenten. Die Arbeiter- und Frauenrechte sollten nicht der Frage überlassen werden, ob eine islamistische oder anti-islamistische Ideologie sich etabliert und nach ihrem Gutdünken Arbeitern, Frauen und Studenten erlaubt, freiwillige Vereine zu gründen. Diese freiwilligen Vereinigungen müssen sich selbst bilden und schützen.
Welche Bedeutung hatten etablierte und neue Medien für die Aufstände und wie haben sich die Aufstände umgekehrt auf die Medien ausgewirkt?
Dabashi: Zum Glück sind die etablierten Massenmedien – Presse, TV usw. – nicht länger alleinverantwortlich für die Schilderung der Ereignisse. Sie stecken in großen Problemen. Der Bedeutungsgewinn neuer Medien ging mit diesen demokratischen Aufständen einher, und in Folge dessen haben teilnehmende Beobachter – Studenten, Frauen und Arbeiter in Massendemonstrationen – die Darstellung der Ereignisse selbst übernommen.
Bahman Jalali, ein sehr prominenter iranischer Fotograf, der letztes Jahr verstorben ist, und fast alle bekannten Fotos von der Revolution 1979 und dem Iran-Irak-Krieg gemacht hatte, sagte kurz vor seinem Tod, dass er nicht länger wisse, wie er die Revolten fotografieren soll, da das Volk sich nun selbst repräsentiert. Die Kamera selbst, die zitternde Hand des Demonstrierenden, während er oder sie wegrennt, ist eine wesentliche Komponente der Aufstände geworden. Es ist eine wesentliche Kraft geworden, nicht nur im Sinne der Selbstdarstellung, sondern auch im Sinne ihrer Verewigung.
Welche Folgen haben diese neuen Formen der medialen Darstellung für die Demokratie?
Dabashi: Wir sind nicht mehr der Großzügigkeit der New York Times, der BBC usw. ausgeliefert. Dies ist das Zeitalter von WikiLeaks. In demokratischen Gesellschaften müssten die Funktionsweise des Staatsapparats eigentlich transparent und das Leben des Bürgers privat sein.
Daraus ist aber das genaue Gegenteil geworden: Das Leben des Bürgers ist Gegenstand von allen möglichen Formen Foucaultscher und nicht-Foucaultscher Überwachungen und der Staat handelt verdeckt. Die Macht von WikiLeaks ist, dass es die Umkehrung bewirkt hat. Jetzt können wir tatsächlich belauschen, wie die US-amerikanische Außenministerin und andere privat darüber sprechen, wie sie in andere Länder einmarschieren könnten.
Für mich stellt dies eine fantastische Entwicklung hin zum Guten dar, zur Macht der einfachen Leute. Es zeigt, dass selbst in demokratischen Gesellschaften Demokratie zu einem einfachen Lippenbekenntnis verkommen ist.
Wie haben diese Entwicklungen das Bild des "Arabers", "Moslems" oder "Iraners" verändert?
Dabashi: Meiner Ansicht nach haben die demokratischen Aufstände in der arabischen und muslimischen Welt, aufgrund ihrer tatsächlichen demokratischen Natur, gezeigt, dass die Bezeichnungen "arabische" und "islamische Welt" obsolet sind. Wir benutzen diese Begriffe irrtümlicherweise.
Jetzt erleben wir die Bedeutung der Demokratie neu, wir definieren ihre Idee neu und zeigen dies der Welt. Europäer und Nordamerikaner, die sich einmischen und versuchen, dies zu interpretieren, zu überinterpretieren oder zu manipulieren, sollten besser innehalten und erkennen, dass ein anderes Volk nun dabei ist, die Idee der Demokratie neu zu definieren.
Interview: Miriam Shabafrouz
Übersetzung aus dem Englischen: Miriam Shabafrouz
© Qantara.de 2011
Professor Hamid Dabashi (geb. 1951) lehrt Iranistik und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University in New York.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de