Europas Kolonialität endet nicht mit dem Fall seiner Reiche
Hamid Dabashi, einer der renommiertesten Wissenschaftler zum postkolonialen Denken, hat eine Vielzahl einflussreicher Bücher und Artikel veröffentlicht. Sein neues Buch Europe and its Shadows: Colonialty after Empire (dt. Europa und seine Schatten: Kolonialität nach dem Imperium) beschäftigt sich mit Europa als Allegorie und zeichnet nach, "wie der Zustand der Kolonialität auch nach dem Fall der Imperien fortbesteht". Zu Dabashis Veröffentlichungen zählen u. a. The Arab Spring: The End of Postcolonialism (dt. Der Arabische Frühling: Das Ende des Postkolonialismus) und Can Non-Europeans Think? (dt. Können Nicht-Europäer denken?).
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Herr Dabashi, was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?
Hamid Dabashi: Meine gesamte Arbeit ist miteinander verbunden: ein Denken – mehrere Facetten. Mich "veranlasst" oder "bewegt" nichts Bestimmtes, ein Buch zu schreiben. Ich freue mich darüber, dass mir Al Jazeera eine Stimme verleiht und mir ein großartiges globales Publikum zugänglich macht, das sich dafür interessiert, wie ich über drängende aktuelle Themen denke.
Meine Bücher beruhen jedoch auf einem anderen, eher grundlegenden Denken. Sie sind gewissermaßen die physikalische Grundlage für die technische Umsetzung in meinen Kolumnen. Das genannte Buch ist Teil meiner fortlaufenden Überlegungen zur Möglichkeit eines gemeinsamen Spielfeldes für ehemalige Kolonien und aktuelle Postkolonien in einer Welt, die eine derartige Gerechtigkeit und Fairness bislang verweigert hat.
In Europe and its Shadows: Colonialty after Empire gehe ich auf das reale Europa ein, nicht auf Europa als Fakt oder Phänomen. Europa ist eine sehr allegorische Macht. Wie kam es dazu? Wie funktioniert das? Warum sind wir von Europa gleichermaßen hypnotisiert und abgestoßen? Ich schreibe weder europhil noch europhob. In gewisser Weise ist das Buch chirurgisch. Ich möchte wissen, warum und wie der Zustand der Kolonialität sogar nach dem Zusammenbruch seiner Reiche fortbesteht. Das ist auch der Grund, warum das Buch das Wort "Schatten" im Titel führt. Das Buch, so könnte man sagen, ist eine Phänomenologie dieser weltweiten Schatten.
Inwiefern unterscheidet sich das Buch von Ihren vorherigen? Steht es in irgendeinem Zusammenhang mit Ihrer als "Intifada-Trilogie" bezeichneten Buchreihe?
Dabashi: Europe and its Shadows: Colonialty after Empire ist sehr eng damit verbunden. Ereignisse, wie die palästinensische Intifada oder die ägyptische Revolution oder der Arabische Frühling usw., äußern sich in einer mechanischen und in einer organischen Dimension. In meinen kurzen Reflexionen in Form von Kolumnen beschäftige ich mich hauptsächlich mit den mechanischen Aspekten. Doch wer mit meiner Arbeit vertraut ist, erkennt sofort, dass meine Thesen auf tief verwurzelte Themen in meinem Denken rekurrieren. Ich schreibe in gewisser Weise beidhändig. Doch ganz gleich, in welcher Hand ich meine Feder halte, alles entstammt dem gleichen kritischen Denken. Genau genommen gibt es drei Plattformen: Facebook, Al Jazeera und meine Bücher: drei unterschiedliche Spielfelder für ein gemeinsames Ballspiel.
"Europa hat sich lange Zeit als Mittelpunkt des Universums gesehen", lautet der erste Satz im Klappentext Ihres neuen Buchs. Gilt das noch immer?
Dabashi: "Europa" ist nicht mehr das Zentrum von allem, geschweige denn des Universums. Europa wurde systematisch und konsequent aus dem Zentrum befördert. Es kann sich doch kaum selbst zusammenhalten. Wie könnte es dann das Zentrum von etwas anderem sein. Aber das Phantomgefühl dieser Idealität besteht fort. Ich möchte dieses Phantomgefühl sezieren. An einer Stelle des Buchs formuliere ich es so: Europa hat hinter unserem Rücken auf das herabgeschaut, was wir schrieben. Jetzt schaue ich aus diesem Buch herab und starre förmlich auf "Europa", so wie es sich selbst geschrieben hat. Doch dies tue ich weder als Außenstehender noch als Dazugehöriger, sondern als Reisender durch Europa. Noch nie habe ich in Europa gelebt. Aber ich bin ausgiebig durch Europa gereist – von einem Ende zum anderen. Ich hege weder Zorn gegen Europa noch bin ich von Europa begeistert. Diese beiden Gefühle würden lediglich die Wahrheit verzerren.
Der Aufstieg der Rechtspopulisten in Deutschland und Europa insgesamt ist mit vielen Spannungen verbunden. Im Europawahlkampf 2019 nutzte die rechtspopulistische AfD eine Fotoreproduktion des Gemäldes "Sklavenmarkt" von Jean Léon Gérôme als Plakatmotiv. Wie behandeln Sie dieses Thema in Ihrem neuen Buch und glauben Sie, dass sich diese Entwicklung in naher Zukunft verstärken oder verändern wird? Wie passt dieses Bild zum "Post-Orientalismus"?
Dabashi: Wie ich bereits früher argumentiert habe, ist "Orientalismus" ein dynamischer Begriff und eine ständige Irreführung. Der Begriff bezieht sich einfach auf das Verhältnis von Macht und Wissensproduktion. Da dieses Machtverhältnis amorph, nicht ethnozentrisch oder stabil ist, entspricht auch die Wissensproduktion diesem Verhältnis und nimmt amorphe Formen an. Jean Léon Gérôme malte ebenso kraftvoll wie eindrucksvoll. Heute nutzen europäische Faschisten und Rassisten sein Werk, um Angst und Abscheu zu erregen. Das sind zwei unterschiedliche Pole.
Sie haben viel zu Edward Said geschrieben, insbesondere in Ihrem Buch "Post-Orientalism" (dt. Post-Orientalismus). Können Sie sich vorstellen, wie Said auf diese aktuelle politische Entwicklung reagieren würde?
Dabashi: Er wäre wohl entsetzt. Aber er hat uns ein gewaltiges Werk hinterlassen, das es Generationen von Wissenschaftlern und Denkern ermöglicht, an seinem Denken teilzuhaben. Der persische Sufi-Mystiker Rumi ist am Ende eines großartigen Gedichts müde und fordert daher die versammelten Musiker auf: "Ihr wisst, was ich meine. Spielt einfach so weiter". Mit Said war es ähnlich. Er entdeckte eine neue Episteme. Seine Erkenntnisse sollten wir heute bis zur Vollendung konjugieren und vielleicht sogar auf die Horizonte einer neuen Welt anwenden. Daher trachten seine politischen Gegner im US-Bildungsministerium immer noch vergeblich danach, sein Andenken auszuradieren. Doch er hat unser kritisches Denken in der DNA verändert. Diese Kleingeister von Tel Aviv bis Washington DC wissen sehr wohl, dass sie verzweifelt gegen einen mächtigen Strom schwimmen.
Wenn Sie auf die Anfänge der Revolutionen ab 2011 und deren weitere Entwicklungen zurückblicken, würden Sie dann heute einige Ihrer Artikel oder Bücher wie "Arab Spring" (dt. Arabischer Frühling) umschreiben wollen?
Dabashi: Nein, ganz sicher nicht. Wie ich bereits auf den ersten Seiten meines Buchs über den Arabischen Frühling schrieb, wollte ich mit meinem Buch Millionen von Menschen vom Tahrir-Platz in Kairo und rund um den Globus zusammentun und ihnen zurufen: "Fordert den Sturz des Regimes". Es war und bleibt mein "Kommunistisches Manifest" (1848). Und ich müsste mich noch davon überzeugen lassen, meinen "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" (1852) zu schreiben, wobei Abdel Fattah al-Sisi die Rolle von Charles-Louis Napoléon Bonaparte einnähme.
Sie schreiben regelmäßig für Al Jazeera. Wie wählen Sie die Themen für Ihre Beiträge aus? Bilden diese den Ausgangspunkt für neue Ideen, die sich zu Monographien entfalten können?
Dabashi: Ich wähle die Themen aus, während ich frühmorgens im Bett liege und die Nachrichten auf meinem iPhone in der Morgendämmerung lese. Ich lese und schreibe und denke und rauche oder lache. Und bevor ich aufstehe, bin ich bisweilen mit einem Artikel fertig. Anschließend verleihe ich dem Beitrag noch den letzten Schliff und schicke ihn dann an die Redakteure. Und tatsächlich verweisen die Artikel manchmal auf Themen, die umfassendere Reflexionen erfordern, wie sie in meinen Büchern zu finden sind. Wie gesagt: Es handelt sich um das gleiche kritische Denken, nur auf etwas unterschiedlichen Spielfeldern.
Das Interview führte Tugrul Mende.
© OpenDemocracy/Qantara.de 2019
Aus dem Englischen von Peter Lammers