"Indiens Muslime sind zutiefst verunsichert"
Dr. Rehman, was versteht man unter "Kuh-Vigilantismus" und was geschieht derzeit in Indien?
Mujibur Rehman: Der Kuh-Vigilantismus ist in Indien zur wahren Bedrohung geworden, allerdings zu einer Bedrohung, die von der Regierung nicht wahrgenommen wird. Es geht um selbsternannte Bürgerwehren, die völlig willkürlich anderen Mitbürgern vorwerfen, Kühe mit der Absicht zu halten, diese zu schlachten und zu verzehren. Diese Kuh-Bürgerwehren behaupten, Kühe retten zu wollen. Dabei weist alles darauf hin, dass es sich um kriminelle Gruppen handelt, deren vorrangiges Ziel darin besteht, Gewalt gegen Muslime auszuüben.
Wo liegen die Ursachen für die seit einigen Jahren zunehmende Gewalt gegen Muslime?
Rehman: Gewalt gegen Muslime ist in Indien nichts Neues. Dieses Thema beschäftigt uns schon seit Jahren. Untersuchungen belegen, dass seit den 1940er Jahren überproportional viele Muslime Opfer von Eigentums- und Tötungsdelikten sind. Im Zuge der Tempel-Moschee-Kontroverse von Ayodhya kam es dann in den 1980er Jahren zu gezielten antimuslimischen Kampagnen. Diese von verschiedenen rechten Organisationen befeuerten Kampagnen dienen dem Ziel, Muslime als existenzielle Bedrohung der hinduistischen Identität darzustellen. Unter der aktuellen rechtskonservativen Regierung der Bharatiya Janata Party (BJP) fühlen sich diese Gruppen wieder ermutigt. Das soll allerdings nicht heißen, dass frühere Regierungen das Leben oder Eigentum von Muslimen wirksamer geschützt hätten.
Was steckt hinter der Lynchjustiz gegen Muslime?
Rehman: Diese Lynchjustiz soll vor allem ein Klima der Angst unter den Muslimen verbreiten, damit sie irgendwann keine Kühe mehr schlachten und kein Rindfleisch mehr verzehren. Doch dieses Kalkül wird nicht aufgehen. Der Verzehr von Rindfleisch wurde mittlerweile zu einem Problem zwischen Hindus und Muslimen hochstilisiert. Dabei essen die Dalits (also Angehörige der untersten Kaste und sogenannte "Unberührbare") ebenfalls Rindfleisch, sodass es sich eigentlich um ein Ausgrenzungsproblem des Kastenwesens handelt. Der Kuh-Vigilantismus ist ein Spiegelbild der Machtausübung durch die politische Mehrheit. Die Botschaft lautet: Du bist uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Wie wirken sich diese Entwicklungen auf die Minderheitenrechte und den Säkularismus in Indien aus?
Rehman: Der Hindu-Nationalismus – der sogenannte Hindutva – lehnt den Säkularismus ebenso ab wie die Rechte der Minderheiten. Hindutva-Gruppen betrachten Muslime nicht als Minderheit, sondern sehen in ihnen geschichtlich die Unterdrücker der indischen Nation, denen eine Lektion erteilt werden muss. Der Säkularismus wird von Politikern, Aktivisten und Hindutva-Unterstützern nicht als Grundsatz des Staates gesehen, sondern als muslimische Initiative. De facto bilden Muslime die ärmste religiöse Minderheit im modernen Indien. Dennoch werden sie bezichtigt, die meisten Vergünstigungen zu erhalten. Hinduistische Nationalisten verbreiten dieses Zerrbild vorsätzlich.
Was muss sich ändern, damit sich indische Muslime in ihrem Heimatland nicht mehr wie Bürger zweiter Klasse fühlen?
Rehman: Es muss noch viel getan werden. Ganz unabhängig vom jeweiligen Glauben sollten alle fundamentalistischen Gruppen und solche, die sich an Hass-Kampagnen beteiligen, konsequent verboten werden. Die Justiz muss entschieden gegen alle Gewalttäter vorgehen. Indien braucht dringend neue landesweit gültige Gesetze - beispielsweise Gesetze gegen Gewalt und Diskriminierung im Kastenwesen und gegen die Lynch-Justiz.
Auch für Organisationen der Zivilgesellschaft gilt: Die Versöhnungsarbeit zwischen den beiden Gemeinschaften sollte oberste Priorität haben. Es müssen unbedingt Maßnahmen zur Vermeidung einer Ghettoisierung und zur Förderung des friedlichen Zusammenlebens ergriffen werden. Das würde neues Vertrauen aufbauen und Hass-Kampagnen den Boden entziehen.
Müssen Muslime unter Premierminister Narendra Modi um ihre Sicherheit bangen?
Rehman: Der Aufstieg von Premierminister Modi verkörpert eine neue Phase der Hindutva-Politik. Gleichzeitig gibt es viele Unterschiede zum Aufstieg der Bharatiya Janata Party unter Führung von L. K. Advani in den späten 1980er Jahren. In seiner Eigenschaft als Premierminister wendet sich Modi zwar nicht unmittelbar gegen die Muslime. Aber sein vielsagendes Schweigen zu Themen, die das Leben von Muslimen direkt betreffen, wie beispielsweise der Vigilantismus oder die Gewalt gegen Muslime wegen der vermeintlichen Entführung von Hindu-Frauen, wirft die Frage auf, wie er es mit der Verfassungstreue hält. Während er nach außen den Eindruck erwecken möchte, einen Balanceakt zu vollziehen, empfiehlt er sich nach innen als Führer der hinduistischen Rechten. Ein solches Verhalten fördert unter den Muslimen die Angst und das Misstrauen gegenüber einem Indien unter der Führung des amtierenden Premierministers.
Modi könnte manches dagegen unternehmen. Er hätte zum Beispiel die Familie von Mohammed Akhlaq aufsuchen können, der von den Mitbewohnern seines Dorfes gelyncht wurde, weil er angeblich Rindfleisch gegessen hat. Er hätte den Angehörigen sein Beileid aussprechen und ihnen den Schutz seiner Regierung vor weiteren Übergriffen zusichern können. Doch davon hatte er abgesehen. Und so verwundert es auch nicht, dass Muslime im heutigen Indien zutiefst verunsichert sind.
Das Interview führte Roma Rajpal Weiss.
© Qantara.de 2017
Mujibur Rehman ist Forschungsmitglied am "Dr. K. R. Narayanan Centre for Dalit and Minorities Studies/Jamia Millia Islamia", Neu Delhi, Indien.
Aus dem Englischen von Peter Lammers