Heimführung oder Zwangsbekehrung?
Die Hindu-Nationalisten nennen es "Heimkehr", doch Muslime und Christen sprechen von Konversion unter Druck. Seit einer Reihe von öffentlichen Zeremonien, bei denen große Gruppen von Christen und Muslimen zum Hinduismus bekehrt wurden, ist in Indien eine heftige Debatte über die Legitimität und die Legalität der von Hindu-Nationalisten organisierten Massenkonversionen entbrannt. Besondere Brisanz gewinnt die Debatte dadurch, dass die hindu-nationalistische "Bharatiya Janata Party" (BJP) seit vergangenem Mai in Neu Delhi die Regierung stellt.
Auslöser der Debatte war eine Zeremonie in einem Slum im nordindischen Agra. Die Bewohner des Viertels sind vorwiegend muslimische Migranten aus dem ostindischen Bengalen, die vom Müllsammeln leben. Indischen Presseberichten zufolge wurden sie am 8. Dezember zu einer Versammlung geladen, um – so hieß es – für Sozialleistungen registriert zu werden. Als sich die Gemeinde versammelt hatte, wurden zu ihrem Erstaunen eine Götterstatue aufgestellt und religiöse Gesänge angestimmt. Am Ende des Rituals hieß es dann, sie seien nunmehr Hindus.
Abgerungener Glaube
In der Öffentlichkeit löste das Ereignis eine heftige Kontroverse aus. Doch ein Einzelfall blieb es nicht. In den vergangenen Woche wurde fast täglich von weiteren Zeremonien berichtet, bei denen Christen und Muslime zum Hinduismus konvertiert wurden. Während die hindu-nationalistische "Vishwa Hindu Parishad" (VHP) und die "Dharam Jagaran Samiti" (DJS), die vorwiegend hinter der Kampagne stecken, den freiwilligen Charakter betonen, gab es immer wieder Berichte, dass die Teilnehmer unter Druck gesetzt oder ihnen Geld, Land oder andere Vorteile versprochen wurden.
Während sich Ministerpräsident Narendra Modi getreu seinem Wahlkampfversprechen auf die wirtschaftliche Entwicklung konzentriert und sich öffentlich jeden Kommentars zu den Konversionen enthält, werfen Kritiker ihm und seiner Partei vor, die Kampagne zu fördern. Auch wenn formal VHP und DJS unabhängig von der regierenden BJP sind, gehören sie doch alle zur hindu-nationalistischen Familie – der sogenannten "Sangh Parivar" – in deren Zentrum die militante Freiwilligenbewegung "Rashtriya Swayamsevak Sangh" (RSS) steht.
1925 gegründet, versteht sich die RSS als Keimzelle und Speerspitze einer künftigen, reformierten Hindu-Nation. Paramilitärisch ausgebildet, hierarchisch organisiert und jahrelang indoktriniert bilden die RSS-Mitglieder in ihrer Uniform aus schwarzer Kappe, weißem Hemd und khakifarbenen Shorts das Rückgrat der seit den 1950er Jahren gegründeten Töchterorganisationen wie der VHP, der DJS oder der BJP. Nicht nur teilen sie alle dieselbe Ideologie, sondern auch ein Großteil ihrer Kader stammt aus der RSS. So auch Ministerpräsident Modi.
Heimkehr statt Misssionierung
Für die Hindu-Nationalisten handelt es sich, wenn Christen oder Muslime zum Hinduismus übertreten, nicht um Konversion, sondern um "Heimkehr" (ghar wapsi). Denn aus ihrer Sicht sind die Muslime und Christen in Indien in Wahrheit Hindus, die unter dem Zwang der muslimischen Eroberer oder verführt von den christlichen Missionaren ihren Glauben aufgegeben haben. Dass der Wechsel des Glaubens oft Generationen zurückliegt, übergehen die Hindu-Nationalisten – aus ihrer Sicht ist es eine Rückkehr zum ursprünglichen Glauben und keine Missionierung.
Gemäß ihrer eigenen Logik ist es da auch nur konsequent, dass die BJP derzeit mit Nachdruck ein allgemeines Verbot von Konversionen fordert. Als Vorbild des geplanten Gesetzes könnte eine Regelung im westindischen Bundesstaat Gujarat dienen, der jahrelang von Modi regiert wurde. In dem Bundesstaat, der während Modis Regierungszeit im Frühjahr 2002 einige der blutigsten anti-muslimischen Pogrome der jüngeren indischen Geschichte erlebte, gilt seit 2003 die Regelung, dass jede Konversion von den Behörden genehmigt werden muss.
Geteilte Loyalität
Obwohl Indien zu mehr als 80 Prozent hinduistisch ist und gerade die Christen eine winzige Minderheit von zwei Prozent bilden, warnt die RSS seit ihrer Gründung vor dem schleichenden "Aussterben" der Hindus. In ihren Augen ist Indien der Staat der Hindus. Gemäß ihrer Konzeption der Nation können Christen und Muslime niemals vollends Inder sein und stehen stets im Verdacht, eine geteilte Loyalität zu haben. So schrieb der Chefideologe der Hindu-Nationalisten, Vinajak Damodar Savarkar, 1921 in seinem einflussreichen Buch "Hindutva: Who is a Hindu?":
"Denn auch wenn für sie [Muslime und Christen] wie für jeden anderen Inder Hindustan das Vaterland ist, ist es nicht auch ihr Heiliges Land. Ihr Heiliges Land liegt weit fort in Arabien oder Palästina. Ihre Mythologie und ihre Götter, ihre Ideen und ihre Helden sind nicht die Kinder diesen Bodens. Folglich riechen ihre Namen und ihre Weltsicht nach fremder Herkunft. Ihre Liebe ist geteilt."
Aus Sicht des zweiten RSS-Führers Madhav Sadashiv Gowalkar ist für Christen und Muslime kein Platz in Indien. Ihnen bleibt nur die Konversion oder die völlig Unterordnung. So schrieb Gowalkar 1939 in seinem Buch "We, or our Nationhood defined", in dem er auch die Entrechtung der Juden in Deutschland als Vorbild für den Umgang mit Minderheiten beschrieb:
"Die fremden Rassen in Hindustan müssen entweder die Hindu-Kultur und -Sprache annehmen und lernen, die Hindu-Rasse und -Kultur zu achten und zu ehren (…), oder sie können im Land bleiben, der Hindu-Nation völlig untergeordnet, ohne etwas zu verlangen, ohne Privilegien oder gar eine Vorzugsbehandlung zu verdienen – nicht einmal Bürgerrechte."
Derart radikale Töne sind von der RSS-Führung heute nicht mehr zu hören. Doch inmitten der Kontroverse um die Konversionen in Agra sagte der örtliche DJS-Vorsitzende Rajeshwar Singh Mitte Dezember: "Unser Ziel ist es, Indien bis 2021 zu einer Hindu-Nation zu machen. Christen und Muslime haben kein Recht, hier zu bleiben. Entweder werden sie zum Hinduismus konvertiert oder gezwungen, von hier fortzugehen." Er werde dafür sorgen, dass Indien bis Ende 2021 frei von Muslimen und Christen sei, versprach Singh.
Modis Schweigen
Während die säkulare Opposition empört ist, schweigt Modi. Der Politiker, der bei den Pogromen gegen die Muslime 2002 als Ministerpräsident von Gujarat eine hochumstrittene Rolle spielte, äußert sich kaum noch zu zentralen hindu-nationalistischen Themen. Stattdessen setzt er ganz auf Wirtschaft und Entwicklung und präsentiert sich als liberaler Reformer. Das zahlt sich aus – nicht nur bei den Wahlen. Galt Modi nach 2002 im Westen als Pariah, wird er heute selbst von US-Präsident Barack Obama umworben, der Ende Januar Neu Delhi besuchte.
Aber haben sich Modi und die BJP wirklich verändert? Das linke Magazin "Frontline" glaubt dies nicht, denn Modi sei und bleibe ein RSS-Aktivist: "Er ist selbst Teil von ihnen und denkt und spricht nicht anders als sie. Er kann den harten Kern nicht zähmen, Modi selbst ist der harte Kern. (…) Narendra Modi teilt die fanatische Sichtweise der Sangh Parivar, die ihn geformt hat. Dies erklärt sein absichtliches Schweigen während der gesamten Zeit, da der Ruf nach Konversion durch die Luft hallt. Im Innern frohlockt er."
Ulrich von Schwerin
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