Welche Islamisierung?
In einer Einwanderungsgesellschaft stellt sich grundsätzlich die Frage, wie mit "zugewanderten Religionen" umzugehen ist. Die aktuelle Debatte über den Umgang mit dem Islam macht deutlich, dass sorgfältig unterschieden werden muss zwischen der institutionellen Gleichbehandlung des Islam einerseits und einer vermeintlichen Islamisierung der Republik andererseits, wie sie beispielsweise von der Pegida-Bewegung behauptet wird. Geschieht dies nicht, kann es das Klima in der Einwanderungsgesellschaft beeinträchtigen. Eine differenzierte politische und rechtliche Betrachtung tut daher not.
Ohne Zweifel hat die Politik in den letzten Jahren massive Anstrengungen unternommen, die Präsenz des Islam im öffentlichen Leben institutionell zu fördern. Dies gilt besonders für Schulen und Universitäten. Zwar existiert weiterhin kein islamischer Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG (mit Ausnahme des alevitischen Religionsunterrichts in einzelnen Bundesländern). Den zur Festlegung der Inhalte des Religionsunterrichts notwendigen Ansprechpartner auf muslimischer Seite gibt es bis heute nicht. Zahlreiche Bundesländer haben ungeachtet dessen in Reaktion auf die hohe Zahl muslimischer Schüler Übergangslösungen zur Etablierung eines bekenntnisgebundenen islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen entwickelt, die die institutionellen Besonderheiten des Islam berücksichtigen.
Damit in direktem Zusammenhang steht die Verankerung islamischer Theologie an mehreren deutschen Hochschulen. Denn Voraussetzung eines flächendeckenden Angebots an islamischem Religionsunterricht sind auch entsprechend ausgebildete Lehrkräfte. Die im vergangenen Jahr an der Universität Münster sichtbar gewordenen Auseinandersetzungen um einen als Professor für islamische Theologie berufenen Hochschullehrer zeigen, dass das Kooperationsverhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften (auch) in dieser Frage keineswegs reibungslos verläuft.
Offener und kritischer Diskurs über die Weiterentwicklung des Islam
Die teilweise massiven Eingriffe islamischer Verbände in die autonomen Handlungsbereiche der Universitäten lassen dabei erkennen, dass ein offener und kritischer Diskurs über die Weiterentwicklung des Islam und seine Stellung im pluralen Staat und zwar auch innerhalb der unterschiedlichen religiösen Strömungen des Islam dringend nötig ist. Auch die christlichen Kirchen haben sich diesen Diskursen stellen müssen.
Die hier für die Bereiche Schule und Hochschule aufgezeigte Entwicklung einer staatlich geförderten stärkeren Präsenz des Islam setzt sich in anderen Bereichen fort. Zu nennen ist etwa das Feld der Wohlfahrtsverbände oder die Gefängnis- und Militärseelsorge.Diese Bemühungen des Staates um die institutionelle Gleichstellung des Islam mit den Kirchen und seit jeher hier etablierten Religionsgemeinschaften als Ausdruck einer voranschreitenden und politisch gewollten Islamisierung Deutschlands zu interpretieren, wäre allerdings falsch. Denn ein Wesenskern der entsprechenden Regelungen des Grundgesetzes ist die Einbeziehung von Religion auch in den staatlichen Bereich des öffentlichen Lebens und die Anerkennung ihres öffentlichen Wirkens.
Diese Offenheit besteht gegenüber allen Religionen, das heißt auch gegenüber dem Islam, und zwar in Form einer übergreifenden Neutralität. Sie hebt sich gegenüber einer distanzierenden Neutralität laizistischer Systeme dadurch ab, dass sie Religionen (im Plural!), ganz im Sinne möglichster Gewährung religiöser Freiheit, Entfaltungsmöglichkeiten gibt, auch im öffentlichen und gegebenenfalls auch im staatlichen Raum, etwa in der Schule.
Diese Offenheit hilft nicht nur, die Religionen und ihre Anhänger in die Gesellschaft zu integrieren, sondern sie dient auch der Stabilisierung des Systems selbst. Denn sie stärkt seine Legitimität, ohne dabei auszuschließen, dass der Staat im Rahmen der Kooperation mit den Religionen berücksichtigt, ob deren Glaubensinhalte mit den Grundwerten der Verfassung in Einklang stehen.
Das Recht auf Religionsfreiheit hat nichts mit Islamisierung zu tun
Automatische Folge der Etablierung des Islam als drittgrößte Religion in Deutschland ist ein wachsender staatlicher Regulierungsbedarf. Mögliche und in Zeiten der Pluralisierung religiösen Lebens eher wahrscheinlicher werdende Konflikte zwischen dem Grundrecht der Religionsfreiheit und anderen Verfassungswerten sind zu klären.
Die Religionsfreiheit beinhaltet nicht nur das Recht, einen religiösen Glauben zu haben und zu bekennen, sondern auch sein gesamtes Leben an religiösen Geboten auszurichten. Die Religionsfreiheit steht allen Bekenntnissen zu, das heißt auch dem Islam.
Mit einer vorgeblichen Islamisierung hat auch dies nichts zu tun, sondern mit der Freiheitlichkeit der Verfassung. Das Grundgesetz kennt keinen Kulturvorbehalt, der die Anhänger von Religionen, die nicht seit jeher hier ansässig sind, vom Gebrauch der Grundrechte ausschließt.
Die Wahrnehmung der Grundrechte wird nicht davon abhängig gemacht, dass sie bestimmten Leitbildern der Mehrheit folgt. Die friedliche Demonstration von Muslimen gegen die Mohammed-Karikaturen fällt ebenso unter die Versammlungsfreiheit wie die Demonstration gegen das islamische Kopftuch. Dies heißt aber nicht, dass die Religionsfreiheit zu einer Art Obergrundrecht mutiert, das per se anderen Verfassungsgütern vorgeht.
In der Schule prallt Religionsfreiheit auf andere Werte
Besonders anfällig für Kollisionen zwischen der Religionsfreiheit und anderen Verfassungswerten ist der Bereich der Schule, der auch stark im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht. Zu den Kollisionsklassikern gehört die Frage nach der Zulässigkeit religiös motivierter Anträge auf Befreiung von Teilen des staatlichen Schulunterrichts, die im Übrigen nicht nur von muslimischen Eltern gestellt werden. Aus der mittlerweile umfangreichen Rechtsprechung dazu lässt sich allerdings keine Islamisierung im Sinne einer automatischen Privilegierung eines religiös (und konkret: muslimisch) motivierten Grundrechtsgebrauchs ableiten.
Der Trend geht vielmehr eher in die andere Richtung, wie etwa das berühmte Burkini-Urteil zeigt. Während das Bundesverwaltungsgericht noch 1993 einer 12-jährigen Muslima eine religiös motivierte Befreiung vom koedukativen Sportunterricht zugestand, änderte dasselbe Gericht 20 Jahre später seine Auffassung und entschied, dass es einer 11-jährigen muslimischen Schülerin durchaus zuzumuten sei, in einem Ganzkörperschwimmanzug, dem sogenannten Burkini, am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen. Im Zentrum der Urteilsbegründung stand dabei das Argument, dass in der Schule keine Form der Geschlechtertrennung simuliert werden könne, die der gesellschaftlichen Realität im Alltag längst nicht mehr entspricht.
Auch das jüngst ergangene Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach einer Lehrerin an einer staatlichen Schule das Tragen des Kopftuchs grundsätzlich nicht, aber immerhin dann untersagt werden darf, wenn sich hieran konkrete Gefahren für den Schulfrieden entzünden, ist kein Ausweis fortschreitender Islamisierung, sondern möchte vielmehr als Ausdruck eines selbstverständlicheren Umgangs mit religiöser Pluralität verstanden werden. Ob das Urteil in der schulischen Praxis tatsächlich befriedend wirken kann, wird freilich mit guten Gründen kritisch gesehen und bleibt abzuwarten.
Der terroristische Überfall auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo hat einen bis vor dem Anschlag weitgehend in Vergessenheit geratenen Konflikt in Erinnerung gerufen, der bereits 2006 im Rahmen des sogenannten Karikaturenstreits zu gewaltsamen Ausschreitungen in zahlreichen Ländern geführt hat. Es geht dabei um die Frage, inwieweit religiös begründete Abbildungsverbote des Propheten Mohammed die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Freiheit der Kunst einschränken können.
Die Rechtslage in Deutschland hierzu ist eindeutig: Zwar existiert im Strafgesetzbuch mit Paragraf 166 eine Norm, die die "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" unter Strafe stellt. In der Rechtspraxis ist dieser Straftatbestand allerdings nur von geringer Bedeutung, da eine Verunglimpfung des Religiösen nur insoweit unter Strafe steht, als von dieser eine Gefahr für den öffentlichen Frieden erwächst. Die Vorschrift dient mithin nicht dem Schutz der religiösen Gefühle Einzelner oder religiöser Gruppierungen.
Selbstzensur findet nicht statt
Im Zusammenhang mit der Klärung des Islamisierungsvorwurfs vermutlich wichtiger als der Blick in das Gesetz oder zu den Gerichten ist an dieser Stelle freilich eine Betrachtung politisches Handelns. Die im Gefolge der Anschläge von Paris dort, aber auch in zahlreichen anderen Städten durchgeführten Solidarkundgebungen, an denen neben Vertretern der Politik und aller Religionen Millionen von Menschen teilgenommen haben, sind als ein starkes politisches Symbol für die Meinungs- und Pressefreiheit und gegen eine einseitige Vereinnahmung des öffentlichen Raumes durch die Religion und damit auch (und vor allem) des Islam zu verstehen. Denn es wurde damit klargestellt, dass die Angst vor Protest und die Einschüchterung durch religiöse Fundamentalisten nicht zu Selbstzensur führen soll und darf.
Die Frage nach dem Umgang mit dem Islam in Deutschland jedenfalls lässt sich selbstbewusst und unter Verweis auf die insgesamt gewährleistete Balance zwischen einer verfassungsrechtlich wie integrationspolitisch gebotenen institutionellen Gleichstellung des Islam auf der einen Seite und den klar markierten Grenzen der Religionsausübung beantworten.
Der freiheitliche Verfassungsstaates kann differenzieren – zwischen privater und öffentlicher Sphäre, zwischen Konflikten, die die Rechte Dritter oder sonstige Verfassungsgüter gefährden und jenen, die in der Demokratie auszuhalten sind. Hier liegt seine besondere Stärke und seine integrierende Kraft.
Christine Langenfeld
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Prof. Christine Langenfeld ist Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und Vodafone Stiftung Deutschland.