Interkulturelle Symbiose: Entdecken, was verbindet
Wenn irgendwo der Wurm drin ist, heißt das meist nichts Gutes. Aber es gibt Menschen, die sehen das anders, die kann ein kleiner Wurm in ihrer Arbeit manchmal einen großen Schritt weiterbringen. Sabine Schmidtke gehört zu diesen Menschen. Sie ist Islamwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin.
Man könnte die 46-Jährige aber auch als Schatzsucherin verlorenen und vergessenen Wissens beschreiben. Ihre Schätze sind mittelalterliche Handschriften. Sie findet sie in Kairo, Sanaa und Istanbul, Jerusalem oder Teheran und mitunter auch im heimischen Berlin. Für ihre Suche braucht sie keine Schaufel, aber Ausdauer und Beharrlichkeit. Und manchmal die Hilfe eines Wurms, aber dazu später.
Sabine Schmidtke erkundet mit ihrem Forschungsprojekt die Ideengeschichte der islamischen Welt. Ungewöhnlich ist ihre Herangehensweise: Sie beschränkt sich nicht auf den Islam, sondern nimmt auch das Judentum und das Christentum ins Visier.
Intensiver Austausch
Anhand wiederentdeckter Manuskripte kann sie nachweisen, dass jüdische, christliche und muslimische Gelehrte bis in die Neuzeit hinein im intensiven Austausch standen und sich gegenseitig befruchteten. Dass es zwischen den Kulturen viel Verbindendes gab. Dass sich die Deuter der drei großen Buchreligionen also keineswegs immer spinnefeind waren, sondern dass es auch ein "Wir" der Philosophen gab.
Die strikte Trennung kam später, und sie wirkt sich bis in die heutigen Forschungsfelder aus. Es gibt kaum gemeinsame Anstrengungen von Judaistik, Christlicher Orientalistik und Islamwissenschaft, jede Disziplin arbeitet an ihrem eigenen Puzzle.
Sabine Schmidtke dagegen versucht, diese Fächerwelten zusammenzubringen und die Grenzen zu überschreiten, fachliche ebenso wie religiöse und politische. In ihrem Team arbeiten Muslime, Christen und Juden, Islamwissenschaftler, Judaisten und Spezialisten für Christliche Orientalistik.
Neben Arabisch, Persisch und Hebräisch beherrschen sie auch Aramäisch, Griechisch und Koptisch. Das Projekt bündelt damit Kompetenzen, die ein einzelner Wissenschaftler niemals haben könnte. Und in gewisser Weise lässt es die fast vergessene Gelehrtenwelt wiederauferstehen, die es erforscht.
Zwei Pässe – einen für Israel, einen für die islamischen Länder
"Diese Arbeit kann friedensstiftend wirken", sagt Schmidtke. Es ist eine Woche, in der der Islam wieder einmal Schlagzeilen macht, mit einem Video und dem anschwellenden Säbelrasseln zwischen Israel und dem Iran. Schmidtke glaubt, dass der Blick auf die Gemeinsamkeiten in der Vergangenheit zumindest Lösungsansätze für die aktuellen Konflikte zwischen den Kulturen bieten könne.
Ein wenig hört man da die Diplomatin heraus. Einige Jahre hat Sabine Schmidtke im Auswärtigen Amt gearbeitet, unter anderem im Nahost-Referat. Sie hatte zuvor an der Hebräischen Universität in Jerusalem und an der School of Oriental and African Studies in London studiert, um dann mit 24 Jahren in Oxford ihre Promotion abzuschließen. Zu jung, entschied sie, um nur noch in der Forschung zu arbeiten. Aber nach acht Jahren hat sie sich dann doch ganz der Wissenschaft verschrieben, sie übte einfach die größere Faszination aus.
Neben ihrer Arbeit im Auswärtigen Amt hatte sie ihre Habilitation beendet, über Bonn kam sie nach Berlin an die FU, dort ist sie seit 2002 Professorin für Islamwissenschaften. Ihre Forschergruppe kooperiert mit Kollegen aus politisch verfeindeten Ländern wie Israel und dem Iran. "Eine Gratwanderung" sei das, erzählt sie, die manchmal verwundert, manchmal argwöhnisch beobachtet werde.
Ihr Büro wirkt unbenutzt, die Regale sind bescheiden. Sie ist selten hier, arbeitet zu Hause, wo die Büchertürme immer höher werden, oder beugt sich in einer Bibliothek im Jemen bei 40 Grad ohne Klimaanlage über Manuskripte. Zwei Pässe hat sie parat, einen für Israel, einen für die islamischen Länder. Wenn sie von alten Manuskripten erzählt, geht ein Strahlen über ihr Gesicht.
Die philologische Detektivin
"Ich arbeite wahnsinnig gern mit alten Handschriften", am liebsten mit solchen, die vor ihr noch kein Wissenschaftler in der Hand hatte und die seit Jahrhunderten ungelesen in irgendeinem Regal verstauben. Dann fühlt sie sich wie eine Entdeckerin. Als "philologische Detektivin" hat sie einmal der Tagesspiegel beschrieben.
Wie sieht diese Arbeit aus? Die Handschriften müssen zusammengeführt werden, manchmal finden sich Fragmente in verschiedenen Städten oder gar Ländern, sie werden fotografiert und digitalisiert, müssen katalogisiert, Autor und Entstehungszeit zugeordnet werden. Und da kommt der Wurm ins Spiel.
Denn meist sind die Blätter dieser Handschriften lose, nicht mehr in der richtigen Reihenfolge, erklärt die Professorin. Diese herauszufinden nimmt allein ein Drittel der Arbeitszeit in Anspruch. Eine Zeit der Knobelei. Wenn man weiß, wie ein bestimmter Autor ein theologisches Traktat aufbaut, bringt einen das weiter.
Aber hilfreich sind auch technische Dinge wie die Färbung des Papiers, die Tinte – und eben der Wurmfraß. Die Lage der Löcher lässt Rückschlüsse zu über Zusammengehörigkeit und Reihenfolge von Seiten.
Schmidtkes Arbeit findet Anerkennung. Vom Europäischen Forschungsrat hat sie einen der begehrten und mit knapp zwei Millionen Euro dotierten "Advanced Grants" erhalten. Als vor einem Jahr im Museum für Islamische Kunst der Start ihres neuen Forschungszentrums gefeiert wurde, kamen nicht nur viele aus der internationalen Fachwelt, auch die damalige Bundesministerin Annette Schavan schaute vorbei.
Schmidtke ist diese Aufmerksamkeit wichtig. "Wir brauchen seitens der Wissenschaft eine Art Öffentlichkeitsarbeit", sagt sie, um dem vorherrschenden negativen Bild des Islams etwas entgegenzusetzen.
Interkulturelle Symbiose
Die Forscherin will nicht nur zeigen, dass muslimisches, jüdisches und christliches Denken "in einer engen Symbiose zueinander" standen. Sondern auch, dass es im Islam niemals nur die eine geltende, konservative Strömung gegeben hat. Diese Sichtweise sei im Nachhinein entstanden. Die gängige Vorstellung, "Rationalismus im Islam gibt es nicht, der Islam ist rückständig und traditionalistisch" sei nicht haltbar.
Da will die Wissenschaftlerin dagegenhalten. "Das Ringen um Pluralität war im – intellektuellen – Leben der islamischen Welt über lange Zeit hinweg die Norm." Erst die zunehmende Dominanz ultraorthodoxer Strömungen verdrängte die islamische Geistesfreiheit.
Beweisen lässt sich die Existenz konkurrierender Interpretationen des Korans und der Worte des Propheten aber nur, wenn das verschüttete Erbe wieder zugänglich gemacht wird. Forschen gegen das Vergessen, könnte man es nennen, wenn Schmidtke den Zeugnissen eines aufgeklärten Denkens im Islam nachspürt.
Fragt man die Forscherin, wie man sich die interkulturelle Symbiose vorstellen muss, erzählt sie, wie sich Muslime, Christen und Juden vom 9. Jahrhundert an Arabisch als Alltags- und Kultursprache teilten.
Sie erzählt von einem Wesir aus Ray (einem heutigen Stadtteil von Teheran), der mit jüdischen und christlichen Philosophen regelmäßig Diskussionszirkel abhielt. Oder von Ibn Kammuna, einem jüdischen Philosophen aus dem Bagdad des 13. Jahrhunderts. Sein Werk beeinflusste die islamische Philosophie über mehrere Jahrhunderte. Dass er Jude war, störte die muslimischen Gelehrten nicht.
Und dann ist da natürlich die Mutazila, eine rationale theologische Denkschule aus dem 8. Jahrhundert, die eine eigene islamische Phase der Aufklärung markierte. Sie ging von der Wahlfreiheit des Menschen aus und dessen Eigenverantwortlichkeit für seine Handlungen.
Diese Strömung hat gerade das jüdische Denken nachhaltig geprägt. Jüdische Gelehrte haben Texte im Geist der Mutazila verfasst, und sie haben viele ihrer Schriften ins Hebräische übersetzt; Schriften, die in der islamischen Welt teilweise verloren gingen oder gezielt zerstört wurden – weil aufklärerisches Denken von den herrschenden orthodoxen Sunniten nicht mehr gewollt war.
Ausgerechnet in jüdischen Handschriftensammlungen haben die Ideen der muslimischen Philosophen überdauert. Hier zeigte sich, sagt Sabine Schmidtke: "Die Forschung lässt sich wertvolle Fundstücke entgehen, wenn sie an Fach- und Religionsgrenzen haltmacht."
"Wir sind keine zwei Unternehmen"
Eine aktuelle Entwicklung in Deutschland will der Grenzgängerin zwischen den Wissenschaften deshalb gar nicht passen: die Einführung islamischer Studien von Muslimen für Muslime, zur Ausbildung von Imamen, aber eben auch zum Aufbau einer islamischen Theologie neben den Islamwissenschaften. "Wir sind doch keine zwei Unternehmen", sagt sie, es gehe um ein großes Ganzes.
Schon jetzt seien Theologie und islamisches Recht integrale Bestandteile der Islamwissenschaften. "Eine Differenzierung des Fachs nach der religiösen Orientierung ihrer Vertreter reißt die hervorragenden Kooperationen auseinander", sagt Schmidtke. Sie spricht aus Erfahrung. Einer ihrer Mitarbeiter, Omar Hamdan, leitet seit vergangenem Herbst das Zentrum für Islamstudien in Tübingen.
Schmidtke befürchtet, dass die – international sonst unübliche – Unterscheidung nach Religionszugehörigkeit die deutsche Forschung in diesem Bereich schwächen wird; und zwar zu einer Zeit, in der die Islamwissenschaft vor großen Herausforderungen steht. Gewaltige Mengen an unerschlossenen Handschriften sind in den vergangenen Jahren aufgetaucht, mehrere 100.000, viele aus Privatbibliotheken. Grundlagenforschung, wie Schmidtke sie betreibt, ist deshalb gefragter denn je.
Und die Zeit drängt. Im Jemen finden sich die meisten Manuskripte, über 50.000 – der weltweit größte Schatz an historischen arabischen Schriften. Die meisten davon sind Texte der Mutazila, schiitische Gelehrte hatten sie in den Jemen gebracht, als die Mutazila im 12. Jahrhundert im islamischen Kernland auf dem Rückzug war. Die Lagerbedingungen sind schlecht, im Land herrscht Armut und politische Instabilität. So drohen die Schriften für immer verloren zu gehen. Auf die Schatzsucherin Sabine Schmidtke wartet viel Arbeit.
Arnfrid Schenk
© Die Zeit 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de