Brücken bauen mit Gesang
Die Melodie ist Avital schon vertraut, doch an den Liedtext muss sie sich noch herantasten. Die 15-Jährige übt den Song "Khallina Nimshi", "Lass uns aufbrechen". Aber seine arabischen Worte versteht die jüdische Israelin nicht.
Für Yasmin ein paar Meter weiter klingen die Wörter hingegen vertraut, denn Arabisch ist ihre Muttersprache. Die beiden Mädchen singen gemeinsam mit 13 anderen Schülerinnen und Schülern im Jerusalem Youth Chorus. Jede Woche treffen sie sich im Klassenzimmer einer Westjerusalemer Schule, unter ihnen Juden, Christen, Muslime. Manche sprechen hebräisch, andere arabisch.
Darum sind immer Übersetzer dabei. "Sie erklären uns, worum es in den Songs geht", sagt Avital, "wir können also die Emotionen spüren, aber die Aussprache ist eine Herausforderung".
Jerusalemer Jugendchor
Dass die Israelin Avital und die Palästinenserin Yasmin regelmäßig gemeinsam proben und dass ihr Repertoire aus hebräischen, arabischen und englischen Songs besteht, ist alles andere als selbstverständlich. Denn in der Stadt, die für Juden, Christen und Muslime heilig ist, ist das Misstrauen untereinander groß, Konflikte sind allgegenwärtig.
In Westjerusalem leben überwiegend jüdische Israelis, die Einwohner im annektierten Ostjerusalem sind Palästinenser mit einem Sonderstatus. Sie sind sogenannte "Ständige Einwohner" der Stadt und können sich innerhalb Israels frei bewegen, anders als zum Beispiel Palästinenser aus dem Westjordanland.
Freundschaftliche Kontakte zwischen Israelis und Palästinensern gibt es in Jerusalem kaum, sie leben in unterschiedlichen Stadtvierteln und besuchen getrennte Schulen. Genau das will der Chor ändern.
"Der Chor ist ganz anders als unser Alltag hier in Jerusalem", sagt Yasmin, "ich kann hier neue Leute kennenlernen und neue Sichtweisen, deshalb bin ich hier. Ich wollte diese Menschen treffen, die ja in der gleichen Stadt leben wie ich." Das ist es auch, was Avital zum Jerusalem Youth Chorus gebracht hat. Er sei eine gute Möglichkeit, um mit unterschiedlichen Kulturen in Kontakt zu kommen: "Ich glaube, das ist genau das, was unser Land braucht."
Die Chorleiter achten deshalb streng darauf, dass die Hälfte der Jugendlichen aus Ostjerusalem, die andere Hälfte aus Westjerusalem kommt. Auch die Auswahl der Songs erfolgt nach einer Quote, erklärt Dirigent Hani Kreitem: "Wir singen hebräische und arabische Lieder zu gleichen Anteilen, damit jeder sich wohl fühlt und gleichzeitig jeder auch in der jeweils anderen Sprache singen muss."
Der Chor öffnet eine neue Welt
Wer beim Chor mitmachen will, muss beim Vorsingen überzeugen – nicht nur mit einer guten Stimme, sondern auch mit Aufgeschlossenheit und Lust zum Diskutieren. Jede Probe dauert vier Stunden, eineinhalb Stunden davon sind für einen Gesprächskreis reserviert – die Teilnahme ist für alle verpflichtend. So sollen die Jugendlichen lernen, dem jeweils anderen zuzuhören und zu begreifen, wie unterschiedlich der Alltag sein kann, je nachdem, aus welchem Stadtviertel sie kommen. Übersetzer und Moderatoren begleiten die Diskussion.
"Wir sprechen sehr frei und offen", sagt Yasmin, "ich habe schnell Vertrauen gefasst zu den anderen, ich höre mir gern an, was sie zu sagen haben. Und ich habe auch das Gefühl, dass sie sich wirklich für mich interessieren. Es ist, als würde sich in meinen Leben eine ganz neue Welt eröffnen."
Auch Avital hat sich schnell an den Gesprächskreis gewöhnt, sie hat dort vor allem ganz praktische Dinge gelernt: "Es ist mir ein bisschen peinlich, aber ich dachte immer, dass die Araber alle Muslime seien. Hier habe ich gelernt, dass ein Teil von ihnen Christen sind, und dass sie ganz andere Feiertage haben als wir."
Seit zehn Jahren gibt es den Chor, der sich ausschließlich über Spenden finanziert. Der US-amerikanische Gründer und Chormusiker Micah Hendler ist nicht nur auf die Aufführungen in den USA und Japan stolz. Besonders wichtig ist ihm auch, dass die Proben kontinuierlich stattgefunden haben, auch in politisch äußerst konfliktreichen Zeiten.
In den vergangenen Wochen geriet Jerusalem wieder in die Schlagzeilen, mit Messerangriffen und Zusammenstößen auf dem Tempelberg. Doch davon lassen sich die Sänger und Sängerinnen nicht beeinflussen: "Selbst wenn es immer wieder Attentate gibt, was hat das mit uns hier zu tun?", fragt Avital, und Yasmin sieht es ganz ähnlich: "Der Chor ist doch etwas ganz anderes! Der ist losgelöst von allem, was dort draußen passiert, wir haben hier unsere eigene Welt."
Da passt es ganz gut, dass die Probe mit einem englischen Song weitergeht. "A Million Dreams" heißt das Lied, es handelt davon, wie man eine neue Realität erschaffen kann, wenn man nur fest genug an die eigenen Träume glaubt. Nach und nach steigen alle Sängerinnen und Sänger ein, erst die Sopran-, dann die Altstimmen und schließlich die Tenöre. Und dann wird aus den vielen verschiedenen Stimmen ein harmonisches Ganzes.
Anja Koch
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