"Der Nahostkonflikt lässt sich nicht in Marburg lösen"
Nach rund 4000 Raketen der Hamas auf Israel, nach dem Beschuss von mehr als 1000 Zielen im Gazastreifen durch die israelische Luftwaffe kam es zu unzähligen antisemitischen Parolen auf deutschen Straßen. Im hessischen Marburg passierte dagegen etwas ziemlich Ungewöhnliches: Juden und Muslime riefen gemeinsam zum Ende der Gewalt im Nahen Osten auf.
"Wir werden den Konflikt nicht nach Marburg tragen, wo wir ihn nicht lösen können", sagten Monika Bunk und Bilal El-Zayat immer wieder und appellierten vor den knapp 100 Teilnehmern der Mahnwache für Frieden in Israel und den Palästinensergebieten. Ungewöhnlich genug, dass dies Menschen aus der jüdischen und der muslimischen Community zusammen tun. Noch bemerkenswerter: Bunk und El-Zayat haben vor einem Jahr den Verein "Gemeinsam e.V. Marburger Gemeinschaft für Jüdisch-Muslimischen Dialog" gegründet.
Krise im Nahen Osten lässt Emotionen auf beiden Seiten hochkochen
Der Konflikt im Nahen Osten lässt sich nicht in Deutschland lösen, vielleicht aber ist Marburg ein gutes Beispiel dafür, wie es sich vermeiden lässt, dass er auch hierzulande ausgetragen wird. Monika Bunk und Bilal El-Zayat, die Jüdin und der Muslim, die Theologin und der Chirurg, wurden beide für ihr Engagement mit dem Hessischen Integrationspreis ausgezeichnet und kennen sich schon seit 20 Jahren. Das kurze gemeinsame Statement für die Mahnwache hat Monika Bunk geschrieben, kurz vor Beginn der Reden drückt sie Bilal El-Zayat noch schnell den Zettel in die Hand. "Ich vertraue ihr, wir verstehen uns blind", sagt El-Zayat.
Dabei wurde dieses Vertrauen zwischen den Gemeinden während des erneuten Ausbruchs kriegerischer Gewalt im Nahen Osten auf eine harte Probe gestellt. Denn einige der 5000 Mitglieder starken islamischen Gemeinde in Marburg sind Palästinenser aus dem Gazastreifen. Die Emotionen kochten ziemlich hoch. Einer von ihnen habe einen Onkel in Gaza, sagt Bilal El-Zayat, der sein Haus durch ein israelisches Bombardement verloren habe. "Manche Palästinenser halten sich gerade sehr zurück und sagen: 'Ich kann jetzt gerade nicht, lasst mich bitte einfach aus den Aktivitäten raus.'"
Schon vor sieben Jahren, beim Gaza-Krieg 2014, waren Bunk und El-Zayat als Krisenmanager und Vermittler gefordert. Damals wurden sie ins Rathaus eingeladen, mit der klaren Ansage, etwas zu unternehmen: "Macht etwas. Sorgt dafür, dass hier in Marburg kein Kleinkrieg ausbricht." Bilal El-Zayat schüttelt den Kopf, wenn er daran zurückdenkt. "So ein Quatsch. Erstens sind wir in Deutschland. Und zweitens darf man natürlich Israel kritisieren, aber vernünftig und sachlich, und nicht auf Plakaten, Demonstrationen oder vor Synagogen."
Meinungsfreiheit ja, aber es gibt Grenzen
Es ist, neben dem gewachsenen Vertrauen, die zweite Konstante im jüdisch-muslimischen Verein: Person, Religion und Politik werden strikt voneinander getrennt. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten gibt es eine gemeinsame Basis, den Willen, in Marburg friedlich zusammenzuleben. Auch dann, wenn bei politischen Diskussionen schon einmal die Fetzen fliegen.
"Wir fahren keinen Kuschelkurs, hier geht es häufig hoch her", sagt El-Zayat, "aber wir haben mit den Jahren gelernt, mehr Verständnis für die Gegenseite aufzubringen." Monika Bunk korrigiert: "Wobei das ja eigentlich keine Gegenseite ist, weil wir keine Gegner sind."
Bunk erinnert sich an den Streit, den sie mit El-Zayat wegen der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen hatte. Bei der Frage, wie weit Meinungsfreiheit gehen darf, lagen sie himmelweit auseinander.
Nach der Mahnwache schnappte sie sich einen muslimischen Freund, der im Netz ein Bild von den Umrissen Israels gepostet hatte, die komplett von einem Palästinensertuch ausgefüllt waren. "Ich habe ihm gesagt, Du darfst gerne die Politik Israels kritisieren, aber nicht sein Existenzrecht negieren. Da ist meine Grenze überschritten. Nimm' das bitte runter", sagt Monika Bunk. "Er antwortete mir dann, Mensch, jetzt wo Du es sagst, sehe ich, dass Du recht hast. Ich habe das aus einer Stimmung heraus gesagt und gar nicht darüber nachgedacht." Die Initiatoren von "Gemeinsam e.V." versuchen in Zeiten, in denen die sozialen Medien die Konflikte zwischen den Religionen noch befeuern, strittige Fragen im Gespräch zu lösen.
Juden und Muslime verbindet mehr als sie trennt
Vor allem aber gilt das Motto: Wir Juden und Muslime haben mehr gemeinsam, als uns trennt. Als mehrere Kippaträger in Deutschland angegriffen wurden, dachten Bunk und El-Zayat direkt an die muslimischen Frauen, die wegen ihrer Kopftücher Anfeindungen ausgesetzt sind. Sie organisierten in Windeseile in Marburg einen "Kippa-Kopftuch-Tag".
Die beiden erinnern an die gemeinsamen erfolgreichen Proteste von Juden und Muslimen 2012, als es um die gesetzliche Regelung der Beschneidung muslimischer und jüdischer Jungen ging. Und sie denken daran, wie ähnlich die Bestattungsriten beider Religionen sind. Monika Bunk sagt: "Wir müssen aber behutsam aufeinander zugehen und dürfen nicht gleich mit dem Gaza-Konflikt ins Haus fallen."
Marburger Muslime besuchen die Gedenkstätte des KZ Buchenwald
Als im September vergangenen Jahres die neue Moschee in Marburg feierlich eingeweiht wurde, sind auch 20 der 320 Mitglieder starken jüdischen Gemeinde bei den Feierlichkeiten mit dabei. Bunk und El-Zayat organisierten eine Fahrt zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald, an der Juden, Christen und Muslime teilnehmen. In Zukunft will man sich mit Schachturnieren und Kochkursen näher kommen, weil gemeinsames Essen die Menschen immer zusammenbringe.
"Wir haben schon etwas bewegt, aber ich weiß nicht, ob wir beide es noch erleben werden, dass ein Miteinander von Juden und Muslimen das Normalste auf der Welt ist", wagt Monika Bunk einen Blick in die Zukunft. Immerhin, sagt sie, werde sie immer wieder von jungen Muslimen auf der Straße angesprochen, dass sie beide Vorbilder seien. Bilal El-Zayat sagt es so: "Wir Muslime in Deutschland müssen begreifen, dass uns eine Partnerschaft mit den Juden hierzulande helfen wird. Und genauso andersherum."
Oliver Pieper
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