Einen Araber töten
Die Leichtfertigkeit, mit der "Araber" (vielleicht muss man den Begriff um “Muslime” erweitern) getötet werden, ist in jüngster Zeit häufiger Gegenstand von Kritik gewesen. Die Invasion und Besatzung des Irak, die Luftangriffe auf Gaza, der syrische Krieg mit mehr als 200.000 Opfern, Hochzeitsgesellschaften, die bei Drohnenangriffen im Jemen ausradiert werden, aber auch Flüchtlinge, die wegen unterlassener Hilfeleistung zu Hunderten im Mittelmeer ertrinken: das sind die aktuellen Kontexte, in denen das Leben von "Arabern" weniger wert erscheint als das von Anderen. Unbekümmert und nonchalant werde der Verlust dieses Lebens hingenommen, weil es in Relation zu den Sicherheitsinteressen und den angeblich legitimen Hegemonialansprüchen des Westens nichts zähle, so die Kritik. Die Opfer bleiben anonym. Die Namen der von Raketen Ausgelöschten und der Ertrunkenen stehen nie in einer Zeitung.
Das anonyme arabische Mordopfer hat einen berühmten literarischen Prototypen. Vor mehr als 70 Jahren hat sich ihn der französische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Albert Camus ausgedacht. Der Mord geschah eines grellen Sommermittags an einem Mittelmeerstrand in der Nähe von Algier. Der Ich-Erzähler "Meursault" streckt "einen Araber" nieder, mit insgesamt fünf Pistolenkugeln. "Der Fremde" – "L'Etranger" – wie der Titel dieses Klassikers der Moderne lautet – bezeichnet den Täter, nicht das Opfer.
Camus beschreibt das Geschehen aus der Perspektive des Täters. Dieser Figur gilt folglich die Aufmerksamkeit der Literaturkritiker und mehrerer Generationen europäischer Gymnasiasten. Warum ist dieser kaufmännische Angestellte Meursault der Welt und warum ist die Welt ihm fremd? Was hat es zu bedeuten, dass er ohne erkennbaren Grund – wenn man das "grelle Sonnenlicht" nicht als Grund gelten lassen will – einen Anderen tötet? In welchem Verhältnis steht diese Tat zur Teilnahmslosigkeit, mit der der Protagonist die Nachricht vom Tod seiner Mutter entgegennimmt? Während die Exegese um das "Absurde" der Tat und um die Frage kreist, ob der Täter erst durch seine Tat schuldig geworden ist oder ob Camus womöglich mit der Romangestalt des "Meursault" den Nachweis erbracht hat, dass der Mensch schon durch seine bloße Existenz Schuld auf sich lädt, bleibt der Ermordete links liegen. Viel mehr als dass er "ein Araber" war, erfährt man von ihm nicht.
Ermittlung gegen ein "literarisches Verbrechen"
Der algerische Autor Kamel Daoud hat diese Leiche aus dem Keller der Weltliteratur hervorgeholt. "Meursault, contre-enquête" ("Der Fall Meursault, eine Gegenermittlung") heißt sein Roman, in dem er den Mord neu aufrollt. "Diese Sache treibt mich um. Nach der Unabhängigkeit (Algeriens) hat sich niemand die Mühe gemacht, den Namen des Opfers, seine Adresse herauszufinden", sagt Haroun, der Ich-Erzähler. Er gibt sich als der kleine Bruder des Ermordeten zu erkennen. "Moussa" habe er geheißen. Die biblische Anspielung ist klar: Haroun, der eloquente Bruder des schwerzüngigen Moussa, dem es versagt geblieben war, sich seinem Publikum mitzuteilen. "Mein Bruder hat kein Wort zu dieser Geschichte beitragen dürfen", klagt Haroun.
Seine rhetorische Fertigkeit musste Haroun sich hart erarbeiten. Seine Mutter ist Analphabetin. Sie hat ein paar Zeitungsartikel aufbewahrt von dem Gerichtsprozess gegen Meursault. Haroun muss sie entziffern. Mit Abscheu stellt er fest, dass die Richter die verbrecherische Natur Meursaults mehr an dem Umstand festmachten, dass er gleichgültig über den Tod seiner Mutter hinweggegangen war als an der Tatsache, dass er einen Menschen umgebracht hatte. "Ich wollte die Absurdität seines Todes nicht hinnehmen", begründet Haroun seine Vergangenheitsrecherche.
Daouds Gegenentwurf ist kein Kriminalroman, genauso wenig wie Camus' Vorlage. Der algerische Autor ermittelt vielmehr gegen das "literarische Verbrechen", das der große Franzose begangen hat. “Meursault” war Angehöriger der französischen Siedlergemeinde im unterworfenen Algerien. Diese koloniale Wirklichkeit geht bei Camus, selbst ein Kind des "französischen Algerien", unter. Camus nennt und behandelt die Orte seiner Romanhandlung "Algier" und "Marengo", als lägen sie in Frankreich (was aus französischer Sicht in den Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ja auch so war).
"Die Gruppe Araber", zu der das spätere Mordopfer gehört, führt Camus mit dürren Worten ein. Sie lehnen an einer Mauer und "ein Murmeln" ist von ihnen zu hören. Einer der Araber ist der Bruder einer Frau, mit der Meursaults Freund, ein Zuhälter, eine Affäre hatte. Diese Frau bezeichnet Camus nicht als "Araberin", sondern als "Mauresque" ("Maurin").
Wie auch immer Camus diesen vordergründig romantischen Begriff gemeint hat, Daouds Ich-Erzähler wendet diese Schilderung scharf, verbissen und ironisch gegen Camus. Algeriens Küste sei wie eine Nutte, die ihre Beine gespreizt habe, um den Kolonialherren einen bequemen Zugang zum Hafen zu ermöglichen. Und dem ziellosen Herumlungern "der Araber" an der Mauer schenkt Daoud eine tiefere Bedeutung. Sie hätten darauf "gewartet", dass "Die Fremden", "die Rumis", einschließlich des "mörderischen Schriftstellers" endlich abziehen. Sie hätten gewusst, dass dieser Tag kommen würde.
Camus und der Kolonialismus
Daoud folgt den antikolonialistischen Spuren Edward Saids. Der große Literaturkritiker beschuldigte Albert Camus in "Culture and Imperialism" bereits vor zwanzig Jahren, die koloniale Wirklichkeit in seinen Romanen verharmlost, verdrängt und damit legitimiert zu haben. “Vermisst” habe er seinen ermordeten Bruder, berichtet Haroun. "Une restitution" nennt er seinen Monolog. Das bedeutet sowohl die "Wiederherstellung" der Identität der Leiche als auch die Wiederherstellung des verdrängten kolonialen Kontextes, in dem das Geschehen angesiedelt ist.
Im Juli 1962 habe er "Rache" geübt, erzählt Haroun. In Hadjout (der arabische Name der Stadt "Marengo"), habe er wahllos einen Franzosen getötet, "einen dicken Mann in kariertem Hemd" namens "Joseph". Seine Mutter habe ihn zu der Tat angestachelt und ihn dabei begleitet. Sein Pech sei gewesen, dass er die Tat wenige Tage nach der Unabhängigkeit begangen habe. Dadurch hätten die Behörden sie nicht als heroischen Akt des Widerstandes, sondern als normales Verbrechen werten müssen. Trotzdem sei er vor der blutjungen algerischen Justiz glimpflich davongekommen.
Im Gegensatz zu "Meursault" plage ihn wegen des Mordes "ein schlechtes Gewissen". Er könne sich nicht einfach damit rechtfertigen, dass es eine "absurde Tat" gewesen sei. Er brauche auch keinen Gerichtsprozess, um sich zu vergewissern, dass er schuldig sei. Das wisse er selbst. Das ist der letzte Kontrapunkt, den Daoud gegen Camus setzt.
Schleichender Identitätsverlust
In der zweiten Hälfte seines Monologs setzt sich "Haroun" zunehmend mit "den neuen Herren dieses Landes" auseinander, und er lässt kein gutes Haar an ihnen. In knappen, eindringlichen Worten schildert er ein herabgewirtschaftetes, unwirtliches Land, in dem der religiöse Fanatismus die Gesellschaft maßregelt. "Die Leute setzen der Angst vor dem Absurden ihren (religiösen) Eifer entgegen", beklagt Haroun. Er beobachtet einen schleichenden Identitätsverlust der Gesellschaft, den er mit seinem persönlichen "Akt der Wiederherstellung" nicht ausgleichen kann. "Die Leute kleiden sich von Tag zu Tag geschmackloser", stellt er resigniert fest.
Diese Ebene macht Daouds Gegenroman zu einem vielschichtigen und tiefgründigen Buch. Denn während er noch mit Camus abrechnet, verbrüdert er sich tastend und heimlich mit ihm. Die neuen Herren des Landes hätten ihm seinen Racheakt zwar schnell verziehen, aber seine "Fremdheit", sein "Anderssein" ("étrangeté") würfen sie ihm vor, lässt er seinen Ich-Erzähler sagen. An Freitagen langweilt er sich ähnlich wie Meursault sich an Sonntagen gelangweilt hatte. Allmählich legt er offen, wie schwierig sein Verhältnis zu seiner Mutter sei. "Ich war nicht ihr Sohn sondern ihr Objekt." Der verstörenden Gleichgültigkeit in Meursaults Beziehung zu seiner Mutter stellt Haroun eine ebenso verstörende Obsessivität im Mutter-Sohn-Verhältnis gegenüber.
Am Ende des Monologs wird die Verbrüderung mit Camus, dem "mörderischen Schriftsteller", offensichtlich. Haroun schildert die Begegnung mit einem Imam, der ihm den Weg zum Trost in Gott weisen will. In teilweise wörtlichen Anspielungen knüpft diese Schilderung an die Begegnung Meursaults mit dem Gefängnisgeistlichen in der Todeszelle an. Haroun weist den Imam ebenso schroff zurück wie Meursault den Priester. Am Ende reicht "Haroun", der Fremde im eigenen, politisch unabhängigen Land, "Meursault", dem Fremden in der modernen menschlichen Existenz, die Hand.
Daoud, der hauptberuflich als Journalist arbeitet, ist mit seinem Roman ein mutiges, beeindruckendes Experiment gelungen. Es reflektiert in Form einer packenden literarischen Gegenrede die Wirkungen des französischen Kolonialismus in Nordafrika. Das Sujet hat angesichts der politischen Gegenwart im Nahen und Mittleren Osten hohe Relevanz. Und ganz nebenbei lädt Kamel Daoud zu einer Relektüre Camus' ein.
In Algerien stößt "Meursault, contre-enquête" auf eine zurückhaltende Resonanz. In Frankreich wurde das Buch mit Begeisterung aufgenommen und mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Die deutsche Übersetzung wird Anfang 2016 im Verlag "Kiepenheuer & Witsch" erscheinen.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2015
Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin "Panorama".