Das Ende der Patriarchen in Algerien
Mit seinem ersten Roman und seinen islamkritischen Äußerungen zu den Ausschreitungen der Kölner Silvesternacht von 2015/16 ist der 1970 geborene algerische Autor und Journalist Kamel Daoud fast über Nacht zu einem internationalen Starintellektuellen avanciert.
Doch lange bevor sein erster Roman 2013 erschien, hatte er sich bereits einen Namen mit Leitartikeln für den Quotidien d’Oran gemacht, der Tageszeitung für die Küstenstadt im Westen Algeriens. Fans von Albert Camus kennen Oran als Schauplatz seines Romans „Die Pest“ und genau auf Camus, geboren in Algerien, und dessen bekanntestes Werk "Der Fremde" nahm Daoud mit seinem erfolgreichen Erstling "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" Bezug.
Daoud erzählt die Geschichte des Arabers, den der "Fremde", Meursault, gleichsam aus Versehen ermordet. Meursault wird dafür zwar vor Gericht gestellt, verurteilt wird er aber nicht für den Mord an dem Araber (eine Lappalie aus Sicht der Kolonialherren) sondern für seine Bindungsunfähigkeit und fehlende Mutterliebe. Also eigentlich, weil er in seiner eigenen Gesellschaft ein Außenseiter ist.
Daouds Roman-Replik spielt mit dem postkolonialen Perspektivwechsel und erzählt dieselbe Geschichte aus algerischer Sicht. Die Pointe: Auch der algerische Erzähler ist ein Fremder in seiner Gesellschaft, ein Alkoholiker, der seine Mutter hasst und seinerseits aus Versehen zum Mörder wird. Mögen Algerier und Franzosen sich bekriegen und verachten: Als Individuen können sie auf einer höheren Ebene, im Existenzialismus, Brüder im Geist sein, wenn sie dem Konformitätsdruck ihrer jeweiligen Gesellschaften widerstehen.
Schreiben gegen den Tod
Fremd und ausgestoßen im eigenen Dorf ist auch Ismaël, der Erzähler in Daouds zweitem Roman "Zabor". Weil seine Mutter bei der Geburt gestorben ist und der Vater eine neue Familie hat, lebt er bei seiner unverheirateten Tante Hadjer. Der Vater, ein reicher Viehhändler und Hobby-Schlächter, zählt zu den Patriarchen des Dorfes und heißt, wie könnte es anders sein, Ibrahim, arabisch für Abraham. In der Bibel und auch nach islamischer Überlieferung verstößt Abraham ebenfalls seine Dienerin Hagar (arabisch Hadjer) und ihren gemeinsamen Sohn Ismaël.
Bei einem Autor, der für seine Religionskritik bekannt ist, überrascht diese Bezugnahme auf die biblisch-koranischen Geschichten. Aber schon in "Der Fall Meursault" hieß der Erzähler Haroun (Aaron) und sein Bruder, der von Meursault ermordete Araber, trug den Namen Moussa (Moses). Wenn Daoud ein Religionskritiker ist, dann einer, der tiefer in die Religion verstrickt ist als die meisten ihrer Gegner. Von dieser Verstrickung aber – und der Befreiung aus ihr – handelt "Zabor".
"Zabor" ist eine Art Autobiografie, nur symbolisch überhöht und ganz der intimen Fantasiewelt des Schreibenden verpflichtet. Dennoch gibt es auch hier den berühmten autobiografischen Pakt, also den Moment im Buch, wo Held und Autor sich treffen: "Zabor", der Titel des Romans, ist das arabische Wort für "Psalm" und der Verfasser der biblischen Psalmen ist bekanntlich König David; David aber heißt auf Arabisch Daoud, wie der Autor. Poesie und Fantasie sind in diesem Buch wichtiger als die Geschichte. Wenn man sich beim Lesen darauf einlässt, wird man reichlich belohnt.
Vater Ibrahim liegt im Sterben und Ismaël hat sich in die Vorstellung hineingesteigert, sein Schreiben könne Leben verlängern. Tinte ist Blut und solange sie auf das Blatt fließt, bleibt auch das Blut im Fluss, ja die ganze Existenz. Nach traditioneller muslimischer Vorstellung ist dagegen alles seit Urzeiten vorherbestimmt, das Buch des Schicksals längst geschrieben: "Die Schreibrohre wurden bereits angehoben und die Seiten sind schon getrocknet", heißt es bei einem alten muslimischen Rechtsgelehrten. Ismaël will mit seinem Schreiben diesen Prozess wieder umkehren. Dass er dabei mit Allah konkurriert, tant pis! Lautete das erste Wort an den Propheten Mohammed "lies!", so fragt Ismaël: "Warum hieß das erste Wort des Engels nicht 'schreib!'?"
Befreiung durch die Sprache der Kolonialmacht
Die Sprache freilich, von der das Überleben abhängt, ist nicht das altehrwürdige Arabisch, das Ismaël in der Koranschule lernt. So sehr es mit magischen Vorstellungen aufgeladen ist und seine eigene Faszinationskraft hat, die in zahlreichen poetischen Beschreibungen von Daoud glaubwürdig vermittelt wird, will es dem Jungen nicht gelingen, sich diese alte Sprache dienstbar und sie wieder lebendig zu machen. Da entdeckt er auf dem Cover eines französischen Kriminalromans eine schöne Frau und muss das Buch lesen, obwohl er nie richtig Französisch gelernt hat.
Und tatsächlich ist das der große Unterschied zwischen Kamel Daoud und den meisten anderen maghrebinischen Autoren, die auf Französisch schreiben: Er ist nicht damit aufgewachsen, sondern hat es wie eine Fremdsprache lernen müssen. Die ehemalige Kolonialsprache zu benutzen, geht daher für ihn nicht wie etwa für Assia Djebar und andere mit der Trauer einher, dass das Arabische ihm als Literatursprache nicht zur Verfügung steht. Die französische Sprache symbolisiert paradoxerweise gerade die Befreiung.
Aber wie bringt man sich in einem zurückgebliebenen Dorf im algerischen Hinterland eine Sprache ohne Hilfsmittel und Lehrer bei? Mit der Kraft der erotischen Fantasie! "Es reichte aus, noch mehr zu lesen und weiter im Verständnis der Worte voranzuschreiten, um den Körper noch intimer zu berühren und nicht nur das Abbild des Körpers zu empfinden, sondern auch die Emotion!"
Ismaël imaginiert sich als ein Robinson Crusoe der Sprache, der sich auf seiner einsamen Insel die Bedeutungen aus dem angespülten Wort-Strandgut zusammenbaut. Was dabei herauskommt, sieht nur von außen wie gewöhnliches Französisch aus. Innerlich wird es von einem Geist erfüllt, der geradewegs aus dem magischen Sprachverständnis des Koran-Arabisch stammt: "Zwischen der Konjunktion und der Metaphysik gibt es eine Verbindung. […] Schreiben und erzählen ist das einzige Mittel, um in der Zeit zurückzugehen, ihr zu begegnen, sie wiederherzustellen oder sie zu kontrollieren."
Hat die Übertragung der Sprachmagie erst einmal stattgefunden, kann das Französische diese Aufgabe sogar noch besser übernehmen als das Arabische, lautet die Erkenntnis des Erzählers. Zwar stirbt der Vater am Ende trotzdem, mit ihm aber auch das Patriarchat. Hatte die in Traditionen erstarrte Gesellschaft keine Sprache mehr für das, was sie plagt und unfrei macht, so wurde für Ismaël alias Kamel Daoud das Französisch zum Ausdrucksmittel dafür. Magisch genug!
Im Frühjahr 2019, in dem die Algerier mit ihren Protesten den greisen Patriarchen-Präsidenten Bouteflika zum Rücktritt gezwungen haben, könnte man auf den Gedanken kommen, alle Algerier hätten ähnliche Erfahrungen gemacht wie Kamel Daoud. Und natürlich wurde er schon aufgefordert, sich in dieser Übergangsphase auch politisch zu engagieren. Nach eigener Aussage hat er sich vorerst dagegen entschieden. Und warum? Wenn Befreiung bei der Sprache anfängt, hat Kamel Daoud mit diesem von der Sprache besessenen, die (französische) Sprache feiernden Roman allen Leserinnen und Lesern die Schlüssel zur Befreiung selbst in die Hand gegeben.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2019
Kamel Daoud: "Zabor", Verlag Kiepenheuer & Witsch, März 2019, 384 Seiten