Der Junge von Nebenan
Nicht einmal Karim Benzema fand einen Weg durch den rumänischen Abwehrriegel. Dabei ist er der Hoffnungsträger der Grande Nation, das Ausnahmetalent in Reihen der "Èquipe Tricolore". Die Zeitschrift "France Football" meint sogar, der 20-jährige Mittelstürmer von Olympique Lyon sei "eines der größten Talente in der Geschichte des französischen Fußballs". Doch auch mit seiner Hilfe stand bei der Auftaktpartie gegen Rumänien nur ein mageres und ernüchterndes 0:0 zu Buche.
Schwermut braucht im Lager der Nationalmannschaft dennoch nicht aufkommen. Denn zum einen bestehen noch alle Chancen aufs Viertelfinale. Und zum anderen ist mit Karim Benzema ein Spieler mit von der Partie, der treffsicher ist wie David Trezeguet, schnell wie Thierry Henry und abgebrüht wie Nicolas Anelka. Das zumindest erzählt man sich vom gebürtigen Algerier.
Die Bescheidenheit der Kabylen
Trotz der markanten Unterschiede in der Spielweise, vergleicht man den Torjäger Benzema gerne mit dem Mittelfeldstrategen Zinedine Zidane. Und das nicht zu unrecht. Denn die Gemeinsamkeiten sind nicht auf, sondern neben dem Platz zu finden – sie liegen in der Herkunft und im Naturell begründet: Die Wurzeln der Benzemas und Zidanes liegen in der Kabylei, einer der ärmsten Regionen Algeriens.
Offensichtlich sind die Menschen aus dieser Landesgegend typischerweise zurückhaltend und bescheiden, auf Benzema und Zidane zumindest ist dieses Klischee zutreffend. Beide eint, dass sie Interviews weitestgehend umschiffen und wenn dies nicht gelingt, den Blick eher gen Boden denn zur Kamera richten. Vor allem für den jungen Benzema ist die Medienlandschaft noch gewöhnungsbedürftig. Und anstatt sie zu bedienen, legt "Bigbenz", wie er von seinen Mannschaftskameraden genannt wird, großen Wert aufs Familienleben: "Mein Vater und meine Brüder geben mir Balance, sie sind das wichtigste in meinem Alltag", sagt der Großverdiener, der ungeachtet seiner Bezüge samt den acht Geschwistern noch zu Hause wohnt.
Die unbeschwerte Leichtigkeit von Benzema
Aufgewachsen ist die vermeintliche Lichtgestalt des französischen Fußballs in einer Betonwüste am Rande Lyons, die sich eher durch Tristesse denn durch unbeschwertes Lebensgefühl auszeichnet. In Punkto Jobs ist die Region eine absolute Einöde. Umso besser aus Sicht der Eltern des Ausnahmekönners, dass ihr Sohn schon im Alter von neun Jahren die Scouts von Olympique Lyon verzückte. Seither trägt er den Dress des Klubs aus seiner Heimatstadt, wurde U 17-Europameister, viermal in Folge französischer Meister, dreimal Pokalsieger und in diesem Jahr mit 20 Treffern Torschützenkönig sowie Fußballer des Jahres. Das ist eine Menge Holz für einen 20-Jährigen, seine unbekümmerte Art hat er durch all die Erfolge jedoch nicht verloren.
Abseits des Platzes sieht man ihn meist mit spitzbübischem Grinsen auf den Lippen und schelmischem Gesichtsausdruck. Er ist nach wie vor der freundliche Junge von Nebenan. Doch wenn es um Tore und Punkte geht, dann kann er auch anders. Dann ist er ein Kraftpaket – einer, der die Fäuste ballt und die Zähne zusammenbeißt. Nicht umsonst eilt ihm der Ruf voraus, ein Ehrgeizling zu sein und ein wahnsinniges Trainingspensum an den Tag zu legen.
"Ich will in allen Belangen besser werden, dafür muss ich noch eine Menge arbeiten. Auch wenn ich inzwischen oft Tore schieße, muss ich stets aufs Neue treffen", zeigt sich Benzema kämpferisch. Dabei bringt er schon allerhand mit, was ein Weltklasse-Stürmer braucht: Er ist technisch hochbegabt, beidfüssig, durchsetzungsstark, ruhig und besonnen vor dem Tor, wild und explosiv auf der Außenbahn. Und weil das so ist, traten vor einigen Monaten die üblichen Verdächtigen auf den Plan, um das französisch-algerische Juwel zu verpflichten, aber Barcelona, Chelsea und Konsorten haben die Fühler vergeblich ausgestreckt.
In der Heimat verwurzelt
Angesprochen auf eine Anfrage seitens Manchester United knurrte Lyons Präsident Jean-Michel Aulas in die Mikrofone: "Wir wollen 60 Millionen Euro. Und dazu müssen sie uns noch Cristiano Ronaldo geben." Ohnehin wollte Benzema den Verein gar nicht verlassen und verlängerte im März dieses Jahres seinen Vertrag bis 2013. Er fühlt sich wohl in seiner Heimat. Dort steht er bereits seit 2005 im Profikader, allerdings konnte er sich in den ersten beiden Jahren gegen die hochkarätige Konkurrenz nicht durchsetzen. In der vergangenen Spielzeit kam es dann zur Leistungsexplosion und seither schießt "Bigbenz" Tore wie am laufenden Band – entweder brachial mit links, filigran mit rechts, wuchtig per Kopf oder schlitzohrig per Elfmeter. Es lief wie am Schnürchen.
"Diese Meisterschaft war eine besondere", so Benzema, "weil ich zum ersten Mal vom Anfang bis zum Ende dabei war." Das hat den "Shooting-Star" des französischen Fußballs auch für die Nationalmannschaft interessant gemacht. Letztes Jahr noch debütiert, steht er nun an der Seite von Thierry Henry im Sturm und vertritt "Les bleus" bei der EM. Immerhin sind an seiner statt gestandene Spieler wie David Trezeguet oder Djibril Cisse zu Hause geblieben. Denn der Junge von Nebenan ist die Gallionsfigur des Generationswechsels und der erneute Beweis dafür, dass in Frankreich das Eingliedern von Migranten zumindest im fußballerischen Bereich funktioniert.
André Tucic
© Qantara.de 2008