Die katarische Kreuzung
Am Tag des Sturzes von Gaddafi spielte sich in Tripoli eine denkwürdige Szene ab: Die Rebellen hissen auf Gaddafis ehemaligem Hauptquartier nicht nur ihre eigene Flagge, sondern auch die von Katar. Bis dahin war die dunkelrot-weiß-gezackte Flagge außerhalb der Golfregion recht unbekannt. Jetzt taucht sie immer öfter an unvermuteten Stellen auf. Zum Beispiel am Fenster einer Unterkunft für syrische Flüchtlinge im Libanon – und die Bewohner berichten begeistert, Katar habe letztes Jahr im Ramadan das Essen für alle bezahlt und unterstütze den Kampf gegen Bashar al-Assad wie kaum ein anderes Land.
Tatsächlich steht Syrien auf der katarischen Prioritätenliste derzeit ganz oben: Katar war das erste arabische Land, das letzten Sommer seinen Botschafter abzog, das Erste, das sich im Herbst für Sanktionen aussprach und das jetzt für eine Militärintervention plädiert.
Ähnlich wie zuvor im Fall von Libyen fließen aus Doha Millionenbeträge zur finanziellen und militärischen Unterstützung der Rebellen. Und ähnlich wie in Libyen wird Katar auch diesmal von säkularen Arabern vorgeworfen, vor allem konservativ-islamistische Kräfte zu unterstützen.
Gleichzeitig steht Katar so sehr wie nie zuvor in der Gunst der USA. Hillary Clinton äußert sich lobend über Al Jazeera und amerikanische Fernsehberichte porträtieren das Land derzeit gerne als Vorbild für die ganze Region. Und dass in der Wüste hinter Doha eine riesige amerikanische Militärbasis liegt, löst auch in Katar kaum noch Kritik aus.
Kein neutraler Vermittler
Dass die außenpolitische Linie eines arabischen Landes gleichzeitig amerikanischer und islamistischer wird, mag paradox klingen. Aus katarischer Sicht jedoch gibt es keinen Widerspruch. Salman Sheikh, der Direktor des Brookings Institute in Doha, sieht in Katar ein Land, das "wie kein anderes mit allen sprechen kann".
"Katars Politik folgt nicht der Logik von 'Ihr seid entweder mit uns oder gegen uns'", sagt er und erklärt so den Erfolg des Landes als Vermittler im Libanon oder im Sudan. Die Rolle des vergleichsweise neutralen Vermittlers hat das Land jedoch im letzten Jahr aufgegeben. Die einst guten Beziehungen zum Iran sind deutlich abgekühlt und der wachsende Einfluss des Landes spaltet die arabische Welt: Sunnitische Revolutionäre in Syrien und Libyen fühlen sich zu Dank verpflichtet und sehen Katar als Land an der Seite der Unterdrückten. Säkulare Kräfte dagegen beobachten Katars Politik mit Misstrauen. Und viele Schiiten im Libanon und in Bahrain sind schlichtweg entsetzt.
Wie sich in der katarische Außenpolitik strategische, sicherheitspolitische und ideologische Motive mischen, ist umstritten. Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält den Emir, Sheikh Hamad Bin Khalifa Al-Thani, für einen Pragmatiker, der genau deswegen problemlos pro-westlich und pro-islamistisch auf einmal sein kann.
"Sheikh Hamad vertritt eine sehr positive Haltung gegenüber den islamistischen Bewegungen, die ziemlich genau die Positionen von Yusuf Al Qaradawi widerspiegeln, der seit 1961 in Katar residiert und praktisch zu einem religionspolitischen Sprachrohr des katarischen Staates geworden ist," meint Steinberg.
Zu Hause keine Demokratie
In Doha gilt Sheikh Hamad Bin Khalifa Al-Thani als arabischer Nationalist – vielleicht ein Indiz dafür, dass der Pan-Arabismus von einst längst abgelöst wird von verschiedenen Strömungen des politischen Islams, so dass beide Denkweise nicht mehr konkurrieren, sondern sich immer öfter vermischen.
Bei den arabischen Aufständen unterstützt Katar den politischen Islam in ganz unterschiedlichen Ausprägungen: Von der tunesischen En-Nahda bis hin zu salafistischen Bewegungen. Nicht auf Unterstützung zählen können derzeit lediglich schiitische Islamisten, denn die gelten in Katar nicht als Reformer, sondern als potentielle Agenten des Irans.
Als im mehrheitlich schiitischen Bahrain die Aufstände brutal niedergeschlagen wurden, hielt sich Katar dementsprechend dezent im Hintergrund. In der unmittelbaren Nachbarschaft ist das Land der Revolutionstreiber am Erhalt des Status quo interessiert.
Denn während die katarische Regierung anderswo Diktatoren zum Sturz bewegen will, ist das System zu Hause von einer Demokratie noch weit entfernt. Salman Sheikh, der früher Berater der First Lady des Landes war, beschreibt es als Mischform zwischen einem traditionellen und einem repräsentativen System:
"Der Emir weiß, dass er seine Entscheidungen mit anderen Familiendynastien absprechen muss. Das funktioniert – weil die einheimische Bevölkerung so überschaubar ist und seine Familie eine hohe Legitimität besitzt. Anders als in anderen Ländern gab es hier bislang keine Forderungen nach einem mehr repräsentativen System. Für die Menschen hier sind Wohlstand und Stabilität am allerwichtigsten."
Heikle Lage zwischen Saudi-Arabien und Iran
Erst im Herbst letzten Jahres gab es Gehaltserhöhungen, die jeden Gewerkschaftler vor Neid erblassen lassen: 60 Prozent mehr für alle Staatsangestellten und in den großen Unternehmen, 100 bis 120 Prozent für Polizei und Militär.
Bisher scheint die Rechnung aufzugehen: In Doha gibt es keine Demonstrationen, kein Aufbegehren, noch nicht einmal öffentliche Kritik an der Regierung. Doha boomt – und oberstes Ziel katarischer Politik ist, dass das so bleibt.
Doch wenn Katar außenpolitisch jetzt eine so große Rolle spielt, dann auch deshalb, weil die eigene Stabilität keineswegs selbstverständlich ist: Eingeklemmt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, ist die Lage des Emirats eindeutig als heikel zu bezeichnen.
Und während die Welt noch über das iranische Nuklearprogramm diskutiert, patrouillieren im Persischen Golf längst amerikanische Flugzeugträger und israelische Unterseeboote.
Sollte der Iran angegriffen werden, ist der Schutz von Katars Erdgas-Förderungsanlagen nur eines von vielen Problemen. Noch gravierender ist: 94 Prozent aller Arbeitnehmer im Land sind Ausländer. Sollten diese plötzlich nach Hause wollen, wäre das für Katar eine Katastrophe.
Doch darüber will in Doha derzeit kaum einer nachdenken. Katar ist anderweitig beschäftigt: Fast im wöchentlichen Rythmus finden internationale Konferenzen statt, treffen sich Regierungsvertreter und Revolutionäre und Katar profiliert sich als kleine, aber unumgängliche Führungsnation in der Region.
Im Newsroom von Al Jazeera fand ein Redakteur dafür folgende Worte: "Katar ist die Kreuzung, die mittlerweile jeder arabische Konflikt passieren muss. Dort entscheidet sich, wie es weitergeht." Große Worte für ein so kleines Land. Aber vielleicht nicht übertrieben.
Stephanie Doetzer
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de