Der Orient im Einmaleins globaler und lokaler Kinomärkte

Auf dem europäischen Markt kommen nur wenige Filme aus dem Orient an. Das liegt weniger an Vorurteilen der Konsumenten als vielmehr an ökonomischen Faktoren.

Von Ludwig Ammann

​​Großes Kino erzählt Geschichten, die alle Welt erobern. Doch wer macht dieses Kino, wessen Geschichten bewegen unsere Herzen von Sao Paulo bis Jakarta? Europa? Das vor polnischen Handwerkern und indischen Programmierern zittert?

Über 750 Filme entstanden im letzten Jahr auf dem Kleinkontinent, mehr als in den USA - beflügelt von satten Subventionen, die das heimische "Kulturgut" schützen sollen.

Nur hat die meisten dieser Förderfilme selbst in ihrer Heimat kaum einer gesehen. Von einer Milliarde Kinobesuchern zogen in der EU 70% US-amerikanische Filme vor, 20% sahen jeweils nationale Filme und nur 10% Filme aus anderen europäischen Ländern.

Suche mit der Lupe nach arabischen Filmen

Ganz zu schweigen von Filmen aus der übrigen Welt: Filme aus arabischen Ländern müsste man mit der Lupe suchen, Filme aus Schwarzafrika mit dem Mikroskop!

Hinreißend das Lebenswerk Youssef Chahines, des ägyptischen Altmeisters des arabischen Kinos, mit Glanz und Gloria präsentiert in Locarno. Trotzdem würde sein neuester Film DAS SCHICKSAL – AL-MASÎR, Gewinner der Ehrenpalme des 50. Festivals von Cannes 1997 und in Frankreich ein Kassenschlager, in Deutschland nicht ins Kino kommen! Warum?

Merkwürdig, dass uns die einzig richtige Antwort nicht einfallen wollte: weil damit auf dem deutschen Markt nichts zu verdienen ist; weil in Frankreich jede Menge Araber leben – und in Deutschland eben Türken; weil derlei demographische Details die Nachfrage mehr prägen als alle politisch korrekt unterstellten Vorurteile.

Stattdessen gab uns ein frischgebackener Filmförderer aus Stuttgart einen Wink mit dem Zaunpfahl: Gründet doch einen Verleih – wir unterstützen euch!

Von einem Augenblick auf den anderen schien es, als könne man das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden – die Selbst- mit der Weltbeglückung. Welch ein Irrtum! Hätten wir gewusst, wie viel Geld man bei einem Filmstart über Nacht verlieren kann – wir hätten die Finger davon gelassen.

Film ist ein Glücksspiel – mit fünf- bis siebenstelligem Einsatz allein im Verleih. Mit anderen Worten: Man wird Filmverleiher aus bodenlosem Leichtsinn. Dann bleibt man Filmverleiher, um den Schaden wieder gut zu machen – und wird süchtig wie jeder andere Spieler auch.

Andere setzen auf Firmen. Wir setzen auf Filme. Das ist verführerischer als das Studium der Bilanzen von börsennotierten Unternehmen. Nur leider teilt das Publikum die eigenen erotischen Vorlieben nicht unbedingt – und hat die Wahl…

Chahine's Film - ein zweifelhafter Erfolg

Wie auch immer: Michael Isele und ich gründeten eines Tages tollkühn KOOL Filmdistribution GbR. Unser Motto: "Verleih für ungewöhnliche Filme. Engagiert und ästhetisch". Und engagierten uns für DAS SCHICKSAL, einen Film mit aufklärerischer Botschaft über die Blüte der arabischen Kultur in Andalusien und den Kampf gegen den religiösen Fanatismus.

Das deutsche Feuilleton war entzückt. Alle wollten ein Interview mit Chahine. Wir sonnten uns in seinem Glanz. Und hielten 15.000 Zuschauer mit drei Kopien für einen Erfolg.

Erfolg? Mit den üblichen 40% Verleihanteil von der Kinokasse waren vielleicht unsere Auslagen, aber noch lange nicht unsere Arbeitswochen bezahlt! Lektion eins: Es gibt Feuilletonfilme und es gibt Publikumsfilme. Beides zugleich ist der Jackpot – und eher selten.

Fünfzehntausend Zuschauer jedenfalls sind kein Publikum, von dem man leben kann. Es sei denn, man würde gefördert. Wurden wir aber nicht: Die zuständige Jury hatte den Namen des berühmtesten Regisseurs der arabischen Welt noch nie gehört und unseren Antrag auf Förderung kaltschnäuzig abgelehnt!

Sind Filme aus der islamischen Welt also dazu verurteilt, allein in der Heimat zu spielen? Weit gefehlt! Sie spielen je nach Herkunft und Machart sehr wohl und mit Erfolg auch auf deutschen Leinwänden. Sogar im CinemaxX! Natürlich nicht arabisches Arthouse, für das es mangels cinephiler Mittelschichten auch in der Heimat kaum Publikum gibt.

Türkisches Popcornkino

Aber türkische Blockbuster wie DIE CHAOTISCHE KLASSE – die sind längst auch in deutschen Großstädten mit hohem Zuwandereranteil ein Hit. Der deutschtürkische Verleiher Maxximum, gegründet von einem Cinemaxx-Projektentwickler, bringt sie mit deutschen Untertiteln – für Landsleute mit schütterem Türkisch! – ins Multiplex.

Dort machen sie mit sensationellen Schnitten am Startwochenende – über 2000 Karten pro eingesetzter Kopie! – in kürzester Zeit bis zu 400.000 Zuschauer, ein atemberaubendes Einspielergebnis für einen Nischenmarkt von nur 2.4 Millionen Deutschtürken!

Global Cinema-Produkte amerikanischer Majors erreichen mit Julia Roberts 20 Mio. Dollar teurem Lächeln fünf von achtzig Millionen Deutsche. Das ist nur ein Bruchteil der Penetration – weil sich die Studios mit viel zu vielen Titeln gegenseitig Marktanteile abjagen.

Um keine falschen Hoffnungen zu wecken: Wir sprechen hier von türkischem Popcornkino. Natürlich gibt es, mangels Förderung sehr selten, auch türkisches Arthouse. Ein minimalistisches Meisterwerk wie UZAK von Nuri Bilge Ceylan erhielt 2003 in Cannes mit Recht den Grossen Preis der Jury.

Der Film lief in Frankreich besser als in der Türkei – und in Deutschland trotz großartiger Kritiken schlechter als DAS SCHICKSAL! Lektion eins für den engagierten deutschtürkischen SanArtFilm-Verleih wie oben, eine weitere Lektion: Minimalismus ist Kassengift. Ich hatte mich – man lernt dazu – bei UZAK lieber auf honorierte Pressearbeit beschränkt…

Die Erfolgsstory des iranischen Kinos

Dennoch gibt es Arthousefilme aus dem Vorderen Orient, die in Europa auf Festivals und im Kinoalltag ein begeistertes Publikum finden. Die meisten davon tragen die Herkunftsbezeichnung MADE IN IRAN. Warum?

Ein Jahr nach unserer Millenniums-Bescherung schickten wir einen Ägypter und einen Iraner ins Rennen, EL MEDINA von Yousry Nasrallah und ZEIT DER TRUNKENEN PFERDE von Bahman Ghobadi. Beides erste Wahl und hoch dekoriert. Aber welch ein Unterschied in der Resonanz! Ghobadi rissen uns die Medien förmlich aus der Hand, obwohl der Mann kein Wort Deutsch oder Englisch sprach.

Mit Yousry Nasrallah wollten nur die wirklichen Kenner sprechen – obwohl er fließend Deutsch, Englisch und Französisch parliert. Und das Publikum! Bei den Premieren zu EL MEDINA füllten sich die Säle trotz anwesendem Regisseur nur zur Hälfte; und der fragte besorgt, ob wir wohl über die Runden kommen würden. Er hatte ja so recht…

ZEIT DER TRUNKENEN PFERDE, der Überlebenskampf von Waisenkindern in einem Bergdorf, wurde dagegen vom Publikum gestürmt: Über 50.000 Zuschauer – und mehr, hätten wir den Film größer gestartet! Was war der Unterschied?

Erstens: Das iranische Kino ist nicht nur gut, denn das sind andere auch, es hat durch seine überindividuelle Clan-Ästhetik eine unverwechselbare Marke etabliert. MADE IN IRAN steht für asketisches, halbdokumentarisches, dabei bilderstarkes und tiefsinniges Kino – wie MADE IN HOLLYWOOD für Actionkracher und Starpower. Also warten Kritiker und Fans hier wie da auf mehr.

Das klappt, weil Iraner gerne ins Kino gehen und die Filmindustrie mit staatlicher Förderung nach der Revolution zu neuer Blüte gelangte. Davon ist die einst so stolze und nun marode ägyptische Filmindustrie weit entfernt – und eine einzelne, bewusst individuelle Schwalbe wie Yousry Nasrallah macht eben noch keinen Sommer.

Zweitens: Es ist nicht leicht, sich auf dem globalen Kinomarkt mit Lokalsprachenkino eine Nische jenseits der Heimat zu erobern. Die Dänen haben es mit Qualität und ihrer genialen Dogma-PR-Kampagne geschafft, die Iraner mit Qualität und – Kindern.

Zur genetischen Grundausstattung des Menschen gehört, dass Kulleraugen von Kindern die Grenzen von Rassen und Klassen überwinden. Die geschäftstüchtigen Iraner haben den Export mit Hunderten von Kulleraugen angekurbelt und den "Kinderfilm für Erwachsene" zum Label erhoben.

Natürlich sind Kulleraugen allein noch keine Erfolgsgarantie. Der australische Hit RABBIT PROOF FENCE über zwei Aborigene-Mädchen auf der Flucht hat es in Deutschland (unter dem Titel: LONG WALK HOME) geschafft – der marokkanische Hit - jawohl: sagenhafte 500.000 Zuschauer in Marokko! - ALI ZAOUA von Nabil Ayouch, eine pessimistische Straßenkinder-Ballade, leider nicht.

Demographische Faktoren als Erfolgskriterien

Drittens entscheidet einmal mehr die Demographie über Erfolg und Misserfolg. Nämlich die Demographie der Zuwanderer. Die revolutionsflüchtigen iranischen Bildungsschichten lieben ihre Arthousefilme auch in Deutschland. Das meist bildungsferne exilarabische Publikum wäre mit folkloristischem Popcornkino besser bedient.

Mehr als einmal machte es unseren eigens eingeflogenen Regisseuren Vorwürfe: zu freizügig die Liebe, die Musik zu westlich und so fort – Bauern, die von der Heimat träumen und nicht wissen, dass die sich auch verändert hat.

Und das deutsche Arthousepublikum? Jawohl, es gibt exotistische Erwartungen an das Kino des Orients. Und wer in der Fremde reüssieren will, tut gut daran, sie nicht ganz zu enttäuschen. Man kann diese Sehnsucht ja so subtil bedienen, dass die Geschichte davon nicht kompromittiert wird.

Die Iraner tun es mit herrlichen Landschaften. Wong Kar-wai tut es mit nostalgischen Geschichten, die in einem spätkolonialen Kulissen-Hongkong der 60er Jahre spielen – und ästhetisch im nächsten Jahrtausend. Weniger erfreulich sind Designprodukte wie die LIST DER FRAUEN, ein feministisches "Schöner-Wohnen-In-Marokko"-Soufflee.

Dass ausgerechnet dieser Märchenorient in Deutschland besser ankam als Geschichten aus dem wirklichen Leben Casablancas oder Kairos – das tut weh. Aber das Publikum schafft an – und wer sich radikal verweigert, den bestraft das Leben.

Ansonsten hat das iranische Kino schlicht Glück. Es ist Selbstreflexion einer dynamischen postrevolutionären Gesellschaft – und das ist eben auch im Ausland gefragt: Die Welt will wissen, wie es sich unter verordneten Schleiern lebt.

Gesellschaftskritische Erwartungshaltung

Natürlich ist es ein Jammer, dass sich Geschichten aus Iran, der Türkei, Marokko und Palästina am besten als gesellschaftskritische Dokumente verkaufen, die Antworten auf die immer gleichen Fragen des Westens an die islamische Welt geben – als wären die Menschen nur unter news- und talkshowkompatiblen Aspekten der Rede wert.

Natürlich sollte uns das Drama des einsamen Großstadt-Intellektuellen in UZAK um seiner selbst willen interessieren – und nicht als Beleg für die Modernität und folglich Beitrittswürdigkeit des Europakandidaten Türkei. Aber die Welt, sie ist nicht so.

Von der Liebe lassen sich Europäer am liebsten mit dem Lächeln Julia Roberts erzählen, von der Liebe in Kairo am liebsten im orientalischen Kostüm.

Vermutlich ist die geforderte Betonung des Partikularen schlicht ein Alleinstellungsmerkmal auf einem von austauschbaren Produkten überfluteten Markt, der "Unique Selling Point". Ein gutes Marketing macht sich das zunutze, ein guter Auteur nimmt die Herausforderung schöpferisch an…

Werden wir Filme aus der arabischen Welt weiter mit der Lupe suchen müssen? Das könnte schon nächstes Jahr anders sein - neues Spiel, neues Glück. Und was heißt "wir"? In Frankreich ist das arabische Kino längst angekommen; weil das Europas bester Markt für internationales Arthouse ist und das Land mit den meisten Arabern.

Weswegen die arabischen Produzenten mit Exportambitionen ihr Produkt von vornherein auf diesen Markt hin ausrichten – mit einem französischen Ko-Produzenten und einer Geschichte, die nach Frankreich führt – wie es Yousry Nasrallah in EL MEDINA tat:

Der ägyptische Held geht nach Paris, um dort seinen Traum vom Theater zu verwirklichen; und so spielt ein von Claire Denis geschriebenes Drittel des Films in Paris, und so treten Stars des französischen Cinema Beur wie Roshdy Zem mit auf. Mit dem Ergebnis, dass der Film in Frankreich anders als in Deutschland ordentlich lief!

Und was heißt "aus der arabischen Welt"? Dürfen es auch Filme mit arabischem Thema sein, gleich wer den Film gemacht hat? Dann hat die Wende schon stattgefunden:

Anfang Mai eroberte das Kreuzzugsepos KINGDOM OF HEAVEN über arabische Muslime und europäische Christen in Jerusalem, eine US-UK-SP-D-Koproduktion mit britischem Hauptdarsteller und Regisseur, gedreht in Marokko und Spanien, Rang eins der Charts in 100 Territorien – und lief in nichtamerikanischen Territorien besser als in den USA! Auch das ist Global Cinema.

Und wenn sich mit eigenem Kino in der arabischen Welt wieder Geld verdienen lässt und nicht nur mit Fernsehen, dann wird sie uns ihre Geschichten auch selber erzählen!

Ludwig Ammann

© Goethe-Institut 2006

Qantara.de

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Amin Farzanefar
Kino des Orients - Stimmen aus einer Region
In seinem Buch "Kino des Orients" hat der Filmjournalist Amin Farzanefar Interviews mit Filmregisseuren aus der arabischen Welt sowie aus Iran und der Türkei zusammengetragen. Der Filmverleiher Ludwig Ammann stellt das Buch vor.

www
Website von Kool-Filmdistribution