Verschenkte Stimmen
Hanna Farah hat zum letzten Mal vor zwölf Jahren gewählt. Er erwähnt das, so wie andere Leute erzählen, wann sie sich das Rauchen abgewöhnt haben. Jedenfalls findet Hanna Farah, ein Architekt und Künstler, der an der Schnittstelle zwischen Tel Aviv und der alten arabischen Hafenstadt Jaffa lebt, dass er damals, als er noch dachte, auf jede Stimme komme es an, sich nur Illusionen hingegeben habe.
"Viel Aufregung um nichts", winkt er ab. "Unsere Rechte werden wir niemals von der Knesset bekommen." Farah streicht sich durch seinen dichten, weißen Bart. Er hat seine eigenen Gründe, warum er so denkt. Er stammt aus Kufr Birim. Das war einst ein arabisch-christliches Dorf nahe der libanesischen Grenze. Die Israelis hatten es 1948 geräumt, aber den Bewohnern zugesagt, sie dürften später dorthin zurückkehren.
Aus den wiederholten Versprechen wurde bis heute nichts. "Wir haben alles versucht, mein Vater und viele andere. Aber ob wir wählen oder nicht, macht keinen Unterschied. Von den Zionisten haben wir nichts zu erwarten." Auch Balad, die Partei des ins Exil geflüchteten Linksintellektuellen Azmi Bishara, die er früher auf dem Stimmzettel angekreuzt hat, ändere daran gar nichts.
Glaube an den politischen Wandel
Wadie Abunassar hat einiges mit Hanna Farah gemein. Auch er ist ein arabischer Christ und ein kritischer Kopf, aber er glaubt daran, etwas bewegen zu können. Selbst wenn er sich dabei die Zunge wund redet. Der Katholik aus Nazareth ist kein Politiker, aber er macht unermüdlich Wahlkampf. Nicht für eine bestimmte Partei, sondern dafür, dass seine Landsleute bei den Knesset-Wahlen am Dienstag (22.1.) von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen.
Gerade hat der Politologe seine beiden Brüder zu überzeugen versucht. Eine schwere Aufgabe. Wadie Abunassar seufzt. Die Unlust unter arabischen Israelis wählen zu gehen, ist groß wie nie. Eine Studie der Universität in Haifa besagt, dass nicht mal jeder Zweite sich an der Wahl beteiligen will.
"Die Leute haben das Vertrauen in das politische System verloren und in die Parteien allgemein, einschließlich der arabischen Parteien", meint Abunassar. Entsprechend leicht verfangen Boykottaufrufe dogmatischer Islamisten sowie von Ibna Balad, den "Söhnen des Landes", die trotzig behaupten, mit Israel, das sich als jüdischer Staat definiere, verbinde sie nichts außer dem Pass.
Kein Zweifel, der Frust der israelisch-arabischen Minderheit ist gewachsen. Ihre Kommunen fallen nach wie vor durch schlechte Infrastruktur auf. Zu ihnen kommt die Müllabfuhr seltener als zu den jüdisch-israelischen Nachbarn. Ihre Schulen sind überfüllter, ihre Steuereinnahmen geringer. Es gibt keinen einzigen arabischen Ort in Israel, in der ein Industriepark angesiedelt wurde.
Gleichzeitig zeichnen sich Städte wie Nazareth oder Umm al-Fahim durch Enge und Wohnungsnot aus. In Israels Gesamtbevölkerung macht der arabische Sektor zwar gut zwanzig Prozent aus. Nur, er verfügt über nicht mehr als drei Prozent des Bodens.
In seinen Gesprächen bekommt Wadie Abunassar immer wieder zu hören: "Es ist uns egal." Die Wahlen brächten doch eh nichts. Da nutze man lieber den Wahltag, an dem Betriebe und Büros geschlossen bleiben, für einen Ausflug mit den Kindern, statt vor den Stimmlokalen Schlange zu stehen. "Wer nicht wählt", entgegnet Abunassar dann, "verliert sein Recht, sich über die schlechte Politik zu beklagen."
Schlimmer noch, damit erweise man den Rechten in Israel einen Gefallen. Verschenkt werden so jedenfalls fünf, wenn nicht zehn Mandate, die das Kräfteverhältnis zwischen dem linken und dem rechten, religiösen Block in Israel dramatisch verschieben könnten.
In den neunziger Jahren war das anders. Damals lag die Wahlbeteiligung der arabischen Israelis im Landesdurchschnitt höher. Viele von ihnen waren treue Anhänger der Avoda, der links-zionistischen Arbeitspartei. Damit war es vorbei, als im Oktober 2000 unter der Regierung Ehud Barak bei harten, aber unbewaffneten Protesten 13 arabische Israelis erschossen wurden.
Zwischen Vertrauensverlust und politischer Apathie
Seitdem ging es bergab. 2009 stimmten in der arabischen Minderheit weniger als fünf Prozent für die Avoda. Heute bekommen auch ihre eigenen Parteien wie die Ex-Kommunisten von Hadash, die eher bürgerliche Vereinte Arabische Liste oder die nationale Balad die Wählerverdrossenheit zu spüren. Ihre Politiker hielten große Reden über Krieg und Frieden, lautet ein verbreiteter Vorwurf, aber kümmerten sich zu wenig um drückende Probleme wie Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Erziehung.
"Die Leute wollen einfach, dass sich die arabischen Abgeordneten um konkrete Angelegenheiten kümmern", sagt Asad Ghanam, der die Untersuchung der Universität in Haifa durchgeführt hat. "Sie wollen, dass etwas getan wird, zum Beispiel gegen Häuserabriss oder die geplante Zwangsumsiedlung von Beduinen im Negev."
Ganz gerecht wird das den arabischen Knesset-Abgeordneten nicht. Ahmed Tibi etwa hat Daten gesammelt, wonach er und seine Kollegen zu achtzig Prozent der Zeit mit innen- und sozialpolitischen Angelegenheiten beschäftigt seien. Nur, die volle Aufmerksamkeit werde ihnen erst bei öffentlicher Erregung zuteil, etwa als die Balad-Abgeordnete Hanan Soabi bei der Free-Gaza-Flotte auf dem türkischen Flaggschiff Marmara mitreiste.
Begrenzter Spielraum
Überdies sind die politischen Gestaltungsmöglichkeiten in der Opposition begrenzt. Keine israelische Regierung hat jemals eine arabische Partei in die Koalition geholt. Im Gegenteil. Oft genug hat das politische Establishment die arabische Minderheit mit dem Generalverdacht belegt, eine Art "fünfte Kolonne" zu sein, die klammheimlich mit dem Feind sympathisiere.
Noch in böser Erinnerung ist die Kampagne des Rechtspopulisten Avigdor Lieberman und seiner Partei Israel Beitenu ("Unser Haus Israel"), die von arabischen Israelis als Voraussetzung für volle Bürgerrechte Loyalitätsbeweise verlangte. Wer es wagt, an die Nakba zu erinnern, die palästinensische Flucht und Vertreibung von 1948, muss inzwischen mit finanziellen Nachteilen rechnen. Das Nakba-Gesetz ist nur eines unter zahlreichen legislativen Vorstößen, mit denen Lieberman und Co. in der letzten Knesset-Periode Stimmung gegen die arabische Minderheit machten.
"Geht wählen", appelliert derweil das linksliberale Lager. Die Zeitung Haaretz druckte einen entsprechenden Leitartikel gar in Arabisch. Auf die Wähler in Jaffa, Nazareth oder Haifa macht das nur bedingt Eindruck. Das arabische Wählerpotenzial verspürt wenig Interesse, Israels etablierte Linke zu retten. "Meretz und Labour", sagt Abunassar, "hatten doch immer nur einen arabischen Kandidaten zur Dekoration."
Politische Dynamik der jüngeren Generation
Aber es tut sich was, vor allem in der jungen Generation. Asma Aghbarieh-Zahalka, eine 39-jährige arabische Gewerkschaftskämpferin aus Jaffa, verkörpert ein ganz neues Selbstbewusstsein. Sie ist die Spitzenfrau von Daam ("Solidarität"), eine sozialistische Partei. Bei den Zeltprotesten auf dem Tel Aviver Rothschildboulevard im Sommer 2011 fiel sie durch ihr ungewöhnliches Charisma auf und ihre Fähigkeit, gleichermaßen Araber und Juden anzuziehen.
"Ich lade euch ein, mich nicht als euren Feind zu sehen." Das hat ihr viele Anhänger beschert, auch wenn es wahrscheinlich diesmal noch nicht reichen wird, die Zwei-Prozent-Hürde zu überspringen.
Zu einer zivilgesellschaftlichen Rebellion anderer Art ruft eine israelisch-palästinensische Initiative namens Real Democracy ("Wahre Demokratie"). Per Facebook melden sich Israelis, die Palästinensern ihre Stimme überlassen wollen.
"Israelische Bürger wählen eine Regierung, die Palästinenser kontrolliert, aber die Palästinenser können nicht wählen", heißt es in der Begründung. Dieser Ungleichheit stelle man sich entgegen, indem israelische Wahlberechtigte auf dem Stimmzettel das ankreuzten, was Palästinenser aus Gaza, Westbank oder Ost-Jerusalem, die anders als die "Araber von 1948" keine israelischen Staatsbürger sind, aufgetragen hätten.
Statistisch dürfte sich dieses neue Phänomen bestenfalls marginal niederschlagen. Aber es könnte ein Vorläufer künftiger Kampagnen für eine Ein-Staaten-Lösung nach südafrikanischem Muster sein: "One man, one vote" – ein Mensch, eine Stimme. Hanna Farah, der Architekt aus Jaffa, sagt, dass er in diesem Fall auch wieder wählen würde.
Inge Günther
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de