Ein Kulturkampf gegen Juden, Muslime und auch Christen?
Das Kölner Landgericht hat auf den ersten Blick recht: jeder medizinische Eingriff an einem Kind erfüllt in Deutschland den Tatbestand der Körperverletzung. Das gilt für das Entfernen einer Warze ebenso wie für das Entfernen der Vorhaut eines minderjährigen Knaben. Der Staat hat das Recht und die Pflicht zu überprüfen, ob die medizinische Handlung, die an dem Kind vorgenommen wird, dem Wohl des Kindes dient.
Lässt sich aber plausibel machen, dass beispielsweise das Entfernen der Mandeln dem Wohl des Kindes dient, dann ist das Handeln des Arztes trotz des Tatbestandes der Körperverletzung gerechtfertigt.
Akzeptanz medizinischer Gründe
In der Regel werden medizinische Gründe als Rechtfertigungsgründe akzeptiert. Hätten also die muslimischen Eltern in Köln dem Arzt gegenüber erklärt, dass sie aus hygienischen Gründen die Beschneidung wünschen, dann wäre es gar nicht erst zum Prozess durch zwei Instanzen gekommen. Bis zum Urteil des Landgerichts in Köln war es ferner herrschende Meinung unter den in religionsrechtlichen Fragen kompetenten Juristen, dass auch die Berufung auf eine religiöse Tradition als Rechtfertigungsgrund zu akzeptieren ist. Davon ging selbst noch die erste Instanz, das Amtsgericht in Köln, aus.
Die Richter des Landgerichts haben bewusst mit dieser in allen Ländern dieser Welt üblichen Tradition gebrochen. Mit welchen Argumenten begründen sie ihre Aufsehen erregende Entscheidung?
Zum einen sehen die Richter in der Aufnahme eines Kindes in eine Religionsgemeinschaft durch das Ritual der Beschneidung offenbar keine elterliche Handlung, die dem Wohl des Kindes dient. Das ist allerdings schwer nachvollziehbar. Denn selbstverständlich lässt sich das Wohl eines Kindes nicht nur biologisch definieren. Zum Wohlbefinden eines Menschen trägt seine soziale Zugehörigkeit ebenso bei wie die Befriedigung seiner spirituellen Bedürfnisse.
Da die Beschneidung die Zugehörigkeit zum "Gottesbund" konstituiert, wäre die Unterlassung der Beschneidung durch fromme Eltern die frevelhafte Verhinderung der Aufnahme des Kindes in das "Gottesvolk". Wenn ein zentrales Gottesgebot und ein staatliches Verbot miteinander in Konflikt geraten, dann – so lehrt uns die Religionsgeschichte – werden die Gläubigen Wege und Mittel finden, den Geboten ihres Glaubens gemäß zu leben. Der Staat aber muss sich fragen, wie ernst er das Recht auf Religionsfreiheit noch nimmt.
Die Richter helfen sich mit dem Hinwies, dass ein Kind doch später selbst entscheiden könne, ob es sich beschneiden lassen möchte. Da in Deutschland Kinder mit vierzehn Jahren religionsmündig sind, wäre dies dann das Alter, in dem muslimische und jüdische Knaben sich selbstbestimmt einer Beschneidung unterziehen könnten. Die Beschneidung, so die Richter, laufe dem Interesse des Kindes zuwider, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können.
Religiöse Erziehung als "Verletzung der Seelen"?
Das will freilich nicht so recht einleuchten: Selbstverständlich kann sich ein beschnittener Erwachsener später von der Religionsgemeinschaft abwenden, in die ihn seine Eltern eingeführt haben. Denkt man dieses Argument zu Ende, dann muss grundsätzlich gefragt werden, ob die religiöse Erziehung von Kindern durch ihre Eltern zwar keine Körperverletzung, wohl aber eine Verletzung der Seelen der Kinder darstellt und deshalb im Interesse des Kindeswohls unterbleiben muss.
Und wie steht es mit der Kindertaufe, die Christen an ihren Kindern vornehmen? Der Apostel Paulus unterscheidet die nur äußerliche Beschneidung des männlichen Gliedes von der "Beschneidung des Herzens", auf die es eigentlich ankomme. Christen empfinden sich auf eine tief greifende Weise beschnitten, wenn sie in den Bund mit Jesus Christus eintreten.
Durch die Taufe, in der man mit Jesus Christus stirbt und wieder aufersteht, kommt es zu einer grundlegenden Veränderung der Persönlichkeit. Der Täufling erhält eine neue Identität. "Ihr alle nämlich, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann noch Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus" (Galater 3, 27-28).
Einen tieferen Eingriff in die Identität eines Menschen kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Wenn denn deutsche Gerichte die Aufnahme von jüdischen und muslimischen Kindern in die Religionsgemeinschaft ihrer Eltern mit dem Kindeswohl nicht für vereinbar halten, dann müssen sie konsequenterweise auch die Kindertaufe verbieten. Und selbst der grundrechtlich garantierte staatliche Religionsunterricht müsste auf seine möglicherweise das seelische Wohlbefinden des Kindes gefährdenden Dimensionen hin neu bewertet werden. Woher wollen die Richter aber so genau wissen, dass Religion dem Wohl des Kindes abträglich ist?
Eine Diskriminierung der jüdischen und der muslimischen Religionsgemeinschaft jedenfalls kann nicht hingenommen werden. Die Richter am Landgericht in Köln sind Opfer eines biopolitischen Monismus geworden, der nicht mehr zwischen medizinischen und religiösen Diskursen zu unterscheiden vermag, weil ihm das Religiöse immer schon als das Anormale, das Fremde und das Andere erscheint.
Rolf Schieder
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de