"Nur als Feinde wurden wir Freunde"
Lizzie Dorons Roman hat stark autobiografische Züge – die Ich-Erzählerin ist Lizzie Doron selber, eine ältere Schriftstellerin, die auf einer Friedenskonferenz in Rom einen jüngeren arabisch-palästinensischen Journalisten kennenlernt. Beide sind Menschenrechtsaktivisten, beide arbeiten für den Frieden.
Obwohl sie dies wissen, spüren sie im Umgang miteinander ständig die beidseitigen Vorurteile. Es beginnt damit, dass der Fotojournalist Nadim Abu Heni auf der Friedenskonferenz zu spät zu ihrer gemeinsamen Podiumsdiskussion kommt. "Typisch Araber, die sind einfach immer zu spät", denkt Lizzie. Nadim aber berichtet dem Publikum, dass er seinen Flug nach Rom verpasste, weil die israelische Grenzpolizei ihn mehrere Stunden lang verhört hatte, unter dem Verdacht, dass er Terrorist sei. Lizzie wird klar, dass sie ihren ersten Eindruck von ihm revidieren muss.
Klischees hinterfragen
Dieses Muster zieht sich weiter durch das Buch und ihre Freundschaft – Wahrnehmungen zu hinterfragen und Vorurteile zu korrigieren. Beide erkennen die Notwendigkeit, ihre automatischen Reaktionen à la "typisch jüdisch" und "typisch arabisch" abzulegen.
Als Nadim Lizzie zum ersten Mal in Tel Aviv besucht, gibt er später zu, dass er noch nie privat in der Wohnung einer jüdischen Person war und dass er Angst gehabt hatte, dass sie ihm ihre Tür nicht öffnen würde. Als Lizzie Nadim in ihrem Apartment begrüßt, überreicht er ihr einen Strauß Rosen, und sie ertappt sich, wie sie denkt: "Wieso Blumen? Araber bringen doch immer Süßigkeiten mit."
In der politischen Situation ist es nicht einfach, Unterschiede beiseite zu schieben. Lizzie hat Familienmitglieder, die im Holocaust getötet wurden. Nadims Familie war von der "Nakba" betroffen – der Vertreibung arabischer Palästinenser von dem britischen Mandatsgebiet Palästina nach der Staatsgründung Israels 1948.
Das Umfeld von beiden betrachtet die aufkeimende Freundschaft mit Misstrauen. Dennoch beschließen sie, zusammen einen Film zu drehen. Das Buch beschreibt die Anstrengungen, das Projekt umzusetzen. Es gerät durch viele Schwierigkeiten ins Stocken, durch Geldmangel oder durch bewaffnete Auseinandersetzungen. All das unterstreicht den permanenten – realen oder mentalen – Ausnahmezustand, in dem sowohl Israelis als auch Palästinenser leben.
"In einem Krieg fühle ich mich wie im Krieg"
Kleine Ereignisse beschreiben die Lage am besten. Während des Gaza-Krieges 2014 können sie sich nicht treffen. Lizzie lebt in Tel Aviv in ständiger Angst vor den ersten Raketen, die die Stadt treffen. Nadim befindet in Ost-Jerusalem und macht sich Sorgen um seine Schwiegereltern in Gaza. Lizzie simst Nadim: "Wie geht es dir?" Nadim simst zurück: "In einem Krieg fühle ich mich wie im Krieg."
Der Titel des Buches bezieht sich auf eine Szene, in der beide mit einer Vertreterin der EU zu Abend essen. Nadim erzählt von seinen alltäglichen Schwierigkeiten – zum Beispiel, dass seine Ehefrau, die aus Gaza stammt, nur ein Touristenvisum für Jerusalem hat und niemals ihre Familie in Gaza besuchen kann.
"Kafka", kommentiert die Dame der EU, im Bezug auf die absurden und gleichzeitig bedrohlichen Situationen, die der tschechische Schriftsteller Franz Kafka in seinen Romanen beschreibt. Nadim erzählt ihr, wie seine Hochzeit verschoben werden musste, weil in Gaza Ausgangssperre verhängt wurde. "Kafka", sagt die Dame erschüttert und wiederholt dies noch mehrmals während des Dinners. Nachdem sie gegangen ist, fragt Nadim Lizzie: "Who the fuck is Kafka?"
Der Film, den Nadim und Lizzie planen, wird nicht gedreht, aber sie halten ihre Freundschaft aufrecht – obwohl sie doch eigentlich Feinde sein sollten. In Bezug auf Israel und Palästina resümieren die beiden, dass sie eigentlich im gleichen Irrenhaus wohnen – nur in verschiedenen Abteilungen.
Sheila Mysorekar
© Entwicklung und Zusammenarbeit 2015
Lizzie Doron: "Who the fuck is Kafka?", Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, dtv premium, 256 Seiten, ISBN 978-3-423-26047-3