Eine Familiensaga zwischen Tel Aviv und Gaza
Ihr neuer Roman, der in Israel sehr erfolgreich ist, heißt "Tzila". Wer war diese Frau?
Judith Katzir: Tzila Margolin war eine starke Frau, die ein Pogrom nur knapp überlebte, bei dem sie jedoch ein Auge verlor. Sie publizierte später feministische Aufsätze, obwohl sie niemals eine Schule besucht hatte.
Die fünffache Mutter hütete zudem ein Geheimnis. Welches?
Katzir: Sie hatte mit zwei Männern zusammen gelebt. Ihre Beziehung zu ihrem Mann Eliezer war nicht gut, denn sie hatte einen viel höheren Horizont als er. Mit 37 Jahren verband sie eine Freundschaft zu dem neun Jahre jüngeren Chanan. Er war literarisch begabt, beherrschte neun Sprachen und war überzeugter Vegetarier. Er lebte mit ihrer Familie 25 Jahre lang – bis zu Eliezers Tod.
Begonnen hatte die Liaison, als ihr Mann Eliezer in Gaza Arbeit fand.
Katzir: 1919 zog er nach Gaza als Betreiber der verwaisten Getreidemühle, die einem im Ersten Weltkrieg geflüchteten Deutschen gehört hatte. Eliezer renovierte diese einzige Mühle in der zerstörten Stadt, die die Familie ernährte.
Meine Urgroßmutter Tzila, die sich von Chanan nicht trennen konnte, brachte ihn nach Gaza als Privatlehrer für die Kinder. Erst als weitere jüdische Familien kamen, entsandte man einen professionellen Lehrer und eröffnete dort die erste hebräische Schule, die "Samson"-Schule.
Wie lebten die wenigen Juden in Gaza?
Katzir: Meine Familie, die Margolins, war die erste, die im Herbst 1919, unmittelbar nach Kriegsende nach Gaza ging. Sie lebten als Mieter in einer Fünf-Zimmer-Wohnung mit Innenhof, wo vor der Eröffnung einer Pension alle jüdischen Besucher übernachteten. Mit der Ermunterung der britischen Regierung und des zionistischen Rates, ließen sich weitere zionistische Familien dort nieder – ein Arzt, ein Uhrmacher, ein Bäcker, ein Schreiner. Im Herbst 1920 entsandte dann die zionistische Führung den ersten Hebräisch-Lehrer, einen Neueinwanderer aus Russland.
Wie bedeutend war Ihre Familie für diese kleine Gemeinde?
Katzir: Sie war sehr wichtig. Tzila war sehr aktiv in der Gemeinde und ihre vier Kinder stellten die Mehrheit in der siebenköpfigen Schulklasse. Bald war sie jedoch mit der "Samson"-Schule unzufrieden, weil die Kinder unterschiedlichen Alters waren und manche von ihnen kaum Hebräisch konnten. Anfangs studierte man im Freien, später in einem maroden Zimmer. Nachdem Tzila nach Tel Aviv zurückkehrte, kündigte der Lehrer 1921 seine Anstellung. Der zionistische Rat weigerte sich daraufhin, für weniger als zwölf jüdische Kinder einen Nachfolger zu suchen. Erst als Eliezer Tzila vorwarf, sie zerstöre durch ihre Abreise die jüdische Gemeinde in Gaza – denn es stand zu befürchten, dass auch die anderen Familien bald wegziehen würden, wenn ihre Kinder keinen Unterricht bekämen –, gab Tzila schließlich nach. Weil sie ihr Privatleben dem Allgemeinwohl unterstellte, kehrte sie im Herbst 1922 mit ihren fünf Kinder zurück nach Gaza – ohne ihren Freund Chanan. Der neue Lehrer folgte bald und die hebräische Schule wurde wieder eröffnet.
Wie gestalteten sich die Beziehungen zwischen den zionistischen Juden und den Arabern in Gaza?
Katzir: In den ersten Jahren sehr gut. Eliezer, der Gemeindevorsteher und deren Vertreter vor Gericht war und den die Araber Abu Jusef nannten, war mit dem früheren arabischen Bürgermeister Said Al-Schawa befreundet. Sein erster Sohn Josef erzählte, dass die Familie vor allem mit den arabischen Mitarbeitern der Getreidemühle befreundet war. Als einer von ihnen heiratete, verbrachte Josef eine Woche im Haus des Bräutigams und feierte mit ihm gemäß arabischer Tradition – mit Gesängen, Tanz und Erzählungen. Die Juden lebten Tür an Tür mit den Arabern und ihre Kinder spielten zusammen. Die fünf Kinder sowie meine Großmutter sprachen alle fließend Arabisch – neben dem Jiddischen, das sie zu Hause sprachen, und der Bildungssprache Hebräisch.
Die arabischen Nachbarn retteten die jüdische Familie während des Bürgerkriegs 1921, indem sie ihnen – entgegen der Vorschriften der arabischen Führung – heimlich Wasser zukommen ließen.
Doch bei den Unruhen vom August 1929 waren auch sie machtlos. Weshalb?
Katzir: Tzila und die Kinder verließen Gaza bereits 1925. Zum Zeitpunkt des Überfalls lebte Eliezer noch in Gaza; zwei seiner Töchter waren in den Sommerferien bei ihm zu Besuch.
Als die Nachrichten vom Massaker an den Juden in Hebron bekannt wurden, verschanzten sich die insgesamt 44 Juden in Gaza in der einzigen jüdischen Pension, wo sie übernachteten. Am nächsten Morgen flohen die meisten britischen Polizisten und der arabische Mob brach hinein, der jedoch zurückgedrängt werden konnte. Daraufhin erschien der frühere arabische Bürgermeister Al-Schawa und half den britischen Soldaten, die belagerten Juden in einen bereit gestellten Zug zu evakuieren, der sie schließlich nach Tel Aviv brachte. Ihre Evakuierung erfolgte unter einem Steinhagel randalierender arabischer Jugendlicher.
Hielt die Freundschaft zwischen Ihrer Familie und den Freunden aus Gaza auch nach Tzilas Tod im Jahr 1967 noch an?
Katzir: Ja, bis zum Ausbruch der ersten Intifada im Jahr 1987 besuchte man sich gegenseitig – in Gaza und in Israel. In diesen Tagen muss ich mit meinen beiden Töchtern in Tel Aviv immer wieder im Treppenhaus Schutz vor Raketen aus Gaza suchen. Die zunehmende Gewalt jüdischer Rechtsradikaler und die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden erschrecken mich sehr. Ich war früher an der linksgerichteten "Genfer Initiative" aktiv beteiligt, die ein gemeinsames Modell eines Friedensabkommens ausgehandelt hat. Heute hoffe ich, dass angesichts der gegenwärtig großen Verzweiflung ein baldiges Ende des Blutvergießens und eine diplomatische Lösung des Konfliktes erfolgen könnten. Dann könnte ich hoffentlich eines Tages die Nachkommen der Nachbarn meiner Großeltern in Gaza treffen.
Das Interview führte Igal Avidan.
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de