In der Hand des Königs
Muhammad steht in der Riege der Höflinge weit oben, ist er doch weniger ein harmloser Spaßmacher als vielmehr ein intellektueller Beobachter, ausgestattet mit der "außergewöhnliche(n) Fähigkeit, in einem Zug und ohne das leiseste Zögern endlos lange Gedichte zu deklamieren", überdies ein "Privatgelehrter", dem der König vertraut.
Dass er sein Leben in die Hand des Königs legt, die eigene Familie, Frau und Kinder, dem "Brimbamborium des Hofzeremoniells" unterordnet und sich "die tausendundein Listen und Ränke" aneignet, um in der "Crème des Haifischbeckens" zu überleben, wurde ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt: Sein Vater war als Barbier am Königshof in Marrakesch beschäftigt.
Witzig, phantasievoll und vor ungewöhnlichen Metaphern sprühend, entfaltet der Ich-Erzähler das Panorama eines fabelhaften Hofstaats des 20. Jahrhunderts. Der Monarch wird dabei keineswegs geschont, die Willkürherrschaft des "dunkelhäutigen Wüstenbeduinen mit negroiden Zügen" erinnert wenig an einen Märchenkönig.
Hängendes "Damoklesschwert" über den Höflingen
Während über den Höflingen das "Damoklesschwert" hängt und niemand von ihnen sicher ist, aus kleinstem Anlass beim König in Ungnade zu fallen, bedeutet die absolute Herrschaft für die marokkanische Bevölkerung, dass "die Folgen einer einzigen schlaflosen Nacht des Königs das ganze Land lähmen" kann – so sehr hängt jede politische Entscheidung von der Person Hassans II. ab. Immer wieder müssen die Höflinge und auch der Hofnarr den König aufmuntern, damit er wichtige, unaufschiebbare Dekrete unterschreibt.
Der Riss, der durch Muhammads Höflingsleben geht, ist mit dem tragischen Schicksal seines ältesten Sohns verknüpft. So raffiniert und fintenreich sich der Hofnarr durch alle möglichen Intrigen zu bewegen weiß, so hilflos erscheint er, als es um die Rettung Abels, seines Sohnes, geht.
Als dieser sich – ohne eigenes Wissen – als Soldatenausbilder in einen blutigen Militärputsch gegen den König verstrickt und zusammen mit anderen Aufständischen gefangen genommen wird, kann sein Vater nichts für seine Rettung tun. Im Gegenteil: Er muss den Sohn seinem Schicksal überlassen, erhört weder die Bitten seiner Frau noch bittet er selbst seinen Arbeitgeber um Gnade für den Sohn, verleugnet ihn stattdessen öffentlich.
In lichtlosen unterirdischen Todeszellen
In ihrem aufschlussreichen Nachwort bietet die Übersetzerin Regina Keil-Sagawe einen Abriss der Herrschaftsjahre Hassans II. (1961 – 1999) und erläutert die damit verbundene Geschichte der Familie Binebines. Viele Details aus dem Roman, etwa der "Grüne Marsch" von Hunderttausenden Marokkanern 1975 in die spanisch besetzte West-Sahara, oder "Tazmamart", ein geheimes Foltergefängnis des Königs, wo dieser in "lichtlosen unterirdischen Todeszellen" zahlreiche "in Ungnade gefallene Personen qualvoll dahinsiechen ließ" – darunter den Sohn des Hofnarren –, erweisen sich als historisch nachweisbare Tatsachen.
Binebine ist ein aufmerksamer Beobachter der politischen Wirklichkeit seines Landes. Neben seiner literarischen Tätigkeit ist er nicht nur ein erfolgreicher Maler, dessen Bilder von "gesichtslosen, gefesselten, aneinandergeketteten, gequälten Figuren" u. a. in New Yorker Guggenheim-Museum hängen, er mischt sich auch ganz praktisch in die Belange seines Landes ein. So gründete er in der Nähe von Marrakesch mehrere Jugendzentren, um wie es im Nachwort heißt, "den Glücklosen eine Chance zu geben".
Mit dem "Hofnarr" hat sich Binebine einem Trauma seiner Familie angenähert, doch statt mit der Schuld des Vaters abzurechnen, versetzt er sich in dessen Perspektive und beschreibt in einem "opulenten Erzählstrom" (so die Übersetzerin) "die langen Jahre des fröhlichen Freiheitsentzugs".
Entleertes märchenartiges Leben
Es sind vor allem die Beschreibungen menschlicher Deformationen, die die Verlockungen der Macht anrichten, was den Roman bei aller Märchenhaftigkeit so lebensecht erscheinen lässt. Wie es jemand über sich bringt, gewissermaßen einer "Sekte" beizutreten, einen "Pakt mit dem Teufel" zu schließen und sich dem jahrelangen Müßiggängertum hinzugeben, während das Volk unter der brutalen Knute des Königs zu leiden hat, davon erzählt Binebine in einer luziden Sprache, die raffiniert mit der Märchenform spielt
Wir tauchen tief ein in diese seltsame Welt der Höflinge, die ihre Zeit mit scheinphilosophischen Dialogen füllen, dabei auf die Befehle des Königs lauern, der meist in depressiver Stimmung im Hintergrund auf seinem Diwan liegt. Alles wird diesen Leibärzten, Kämmerern, Sehern, Köchen, Spaßmachern geboten, sogar ihre Eheschließung ist eine Angelegenheit des Hofes und gehört ins "Gesamtpaket" bei der Aufnahme in den Palast. Und doch scheint dieses märchenartige Leben leer und sinnlos – mit der einzigen Ausnahme des Hofnarren, den – wie wir im Roman mit Erstaunen erfahren – echte Liebe zu seinem König verbindet.
Dass Binebine diese Pointe nicht unterschlägt und den eigenen Vater in seiner tiefen emotionalen Verbundenheit mit dem Monarchen zeichnet und ihm damit auch ein Stück seiner Schuld nimmt, macht diesen autobiographisch gefärbten Roman zu einem Zeugnis menschlicher Versöhnung in einem tragischen Familienkonflikt.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2018
Mahi Binebine: "Der Hofnarr", Roman aus Marokko, Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe, Lenos-Verlag, 200 Seiten, ISBN 978 3 85787 965 4