Kinder, Gläubige und Opportunisten
Am 12. November 2011 wurde der Wahlkampf in Marokko offiziell eröffnet. Nachdem am 1. Juli dieses Jahres über Marokkos neue Verfassung abgestimmt wurde, schaut das Land nun auf die vorgezogenen Parlamentswahlen am 25. November.
Für das Verfassungsreferendum nutzte die Monarchie alle zur Verfügung stehenden Mobilisierungskanäle: So nahmen nach offiziellen Zahlen 73 Prozent der Wahlberechtigten teil; 98,5 Prozent von ihnen votierten für den neuen Text.
Auch Oppositionelle sehen im Verfassungstext durchaus einige wegweisende Richtungsbestimmungen für die marokkanische Monarchie, aber die königliche Kampagne halten sie für ebenso illegitim, wie eine nochmalige Änderung des Textes nach der Abstimmung.
Laut neuer Verfassung kann der König den Premierminister nicht mehr unter Missachtung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament ernennen, sondern muss einen Regierungschef aus den Reihen des Wahlgewinners wählen. Somit ist die derzeitige Regierung nicht verfassungskonform und Neuwahlen wurden notwendig.
Vertrauensverlust der Wähler
Das Hauptproblem des Referendums sowie der kommenden Parlamentswahlen liegt darin, dass das Vertrauen zwischen Politikern und Wählern seit langem beschädigt ist. Ein Zusammenschluss aus 70 Nichtregierungsorganisationen nimmt mit 3.000 Wahlbeobachtern an der Wahl teil.
Um den Umbrüchen in Nordafrika Rechnung zu tragen, wurde die Quote für Frauen von 30 auf 60 Sitze erhöht und eine Quote von 30 Sitzen für junge Erwachsene (unter 40) eingeführt. In der Praxis bedeutet dies, dass die "Jugendquote" de facto eine Quote für "junge Männer" ist, denn junge Frauen sollten doch auf der Frauenliste kandidieren, so das fadenscheinige Argument.
Gemeinhin gilt das Verfassungsreferendum im Juli als Abstimmung über den König, während es in den nächsten Wahlen nun um die Zukunft der Parteien und des Parlamentarismus im Land geht. Und diese sieht nicht sehr rosig aus.
Mit den Protesten in der arabischen Welt und der marokkanischen "Jugendbewegung 20. Februar" (kurz M20F) sind die Erwartungen an einen echten politischen Wechsel sehr hoch, aber die Hoffnungen, dass dieser durch die etablierten Parteien kommt außerordentlich niedrig. Weder gibt es neue Parteien oder unverbrauchte Gesichter noch sind die Programme der Parteien wenige Wochen vor der Wahl bekannt. Und die Enttäuschung der Wähler geht durch alle Anhängerschaften.
Ausschlaggebend für eine Bewertung der kommenden Wahlen wird daher die Wahlbeteiligung sein: Aus Sicht des Establishments wäre es eine Katastrophe, sollte die Beteiligung erneut so niedrig sein, wie bei den letzten Parlamentswahlen 2007. Damals gingen nur 37 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen.
"Partei der Opportunisten"
Allerdings wird wenig getan, um die Wähler zu überzeugen: Unter Führung der Parti authenticité et modernité (PAM) hat sich eine Allianz aus ganz unterschiedlichen Parteien zur sogenannten G8 zusammengeschlossen, um die Islamisten der PJD zu isolieren.
Die PAM war 2008 auf Geheiß des Königs von seinem Vertrauten Fouad Ali Himma gegründet worden mit dem Ziel, den Modernisierungsweg der Monarchie zu unterstützen. Bisher hat sie nur an den Kommunalwahlen 2009 teilgenommen – damals mit Erfolg. Im Volk wird die G8 nun aber die "Partei der Opportunisten" oder "Das Kunstprodukt" genannt. Karim Tazi, einer der bekanntesten Unternehmer des Landes, nannte den neuen Zusammenschluss der G8 "politischen Selbstmord", da gerade sie jene Eliten verkörpere, die für Korruption und Stillstand im Land stehen.
Die Sozialisten der USFP sind seit 1998 an der Regierung beteiligt und wurden im Ränkespiel des makhzen zerrieben. Die "Parti Socialiste Unifie" (PSU), deren Wahlbündnis von 2007 derzeit noch mit drei Abgeordneten im Parlament vertreten ist, ruft dieses Mal zum Boykott auf.
Marokkos radikale Linke sieht 2011 eine historische Chance, den festgefahrenen politischen Prozess aufzubrechen. Sie engagieren sich stark in der Jugendbewegung. Dies teilt sie mit der illegalen Bewegung "Gerechtigkeit und Wohlfahrt", die ihre Anhänger ebenfalls zum Boykott aufruft und gemeinsam mit dem Mouvement 20 février demonstriert.
Damit stellt sie sich auch gegen die islamistische Parti du justice et développement (PJD), die für einige Wähler als einzige in den letzten Jahren Ansehen und Glaubwürdigkeit hinzugewonnen hat. Zwar lag die PJD schon 2007 nur knapp hinter der regierenden Istiqlal-Partei, wurde jedoch bisher noch nie an einer Regierung beteiligt.
Kein politisches Sprachrohr der Jugend
Eine Regierungsbeteiligung könnte diesmal das Ventil der Monarchie sein, den Bürgerwillen vordergründig zu respektieren. Aber eine solche Regierungsbeteiligung würde in keiner Weise den Forderungen der Jugendbewegung Rechnung tragen. De facto ist auch die PJD eine Opposition de sa majésté und nicht à sa majésté, gegründet 1998 noch unter Hassan II.
Ihr Generalsekretär Abdelilah Benkirane agiert nicht minder populistisch oder opportunistisch. In einer öffentlichen Diskussionsreihe vor den Wahlen ließ er kürzlich auf die Frage nach den individuellen Freiheiten verlautbaren: Mit ihm als Regierungschef werde es niemals einen Verein für Homosexuelle im Land geben. Begründung: individuelle Freiheiten werden von Gott garantiert. Benkirane aber habe die Pflicht die Gesellschaft zu schützen, da es hier Kinder und Gläubige gebe.
Im Übrigen erklärte Benkirane die Tatsache, dass seine Partei die Jugendbewegung M20F nicht unterstütze damit, dass die marokkanische Monarchie nach dem Sturz von Ben Ali und Mubarak ernsthaft gefährdet sei. Daher müsse sich seine Partei vor allem staats-, d.h. monarchietragend verhalten und nehme nicht an den Demonstrationen teil. Ansonsten gäbe es heute vielleicht keine Monarchie mehr, so Benkirane selbstbewusst.
Die Jugendbewegung solle sich bloß nichts einbilden: Zwar habe sie einiges in Bewegung gesetzt (insbesondere den königlichen Diskurs vom 9. März 2011), aber sie sei nicht die Ursache von allem, so der "überzeugte Monarchist" Benkirane. Er wisse nicht, wo Marokko heute ohne Monarchie stehen würde: "ein Land, mehrere Länder, Bürgerkrieg, Unordnung – was auch immer..."
Die kommenden Wahlen werden wohl kaum zu einer Neubestimmung des Landes beitragen, so der weit verbreitete Eindruck.
Sonja Hegasy
© Qantara.de 2011
Dr. Sonja Hegasy ist Islamwissenschaftlerin und Vizedirektorin des Zentrums Moderner Orient in Berlin.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de