Ein schwieriger Balanceakt
Glaubt man jüngsten Meinungsumfragen, so erhält die "Partei Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD), die führende Partei der Regierungskoalition Marokkos, weiterhin großen öffentlichen Zuspruch.
Zwar brach die von den Islamisten geführte Regierungskoalition Anfang Juli auseinander, nachdem die Minister der konservativ-nationalistischen Istiqlal-Partei ihren Austritt aus der Regierung bekannt gegeben hatten.
Auch scheiterte die PJD, wichtige Ziele ihres Parteiprogrammes umzusetzen (wie beispielsweise die Änderung der Rundfunkbestimmungen als Teil der Überarbeitung des Journalistengesetzes, die Reform des Rechtssystems, der Kampf gegen die Korruption, die Reform der Sozialversicherungssysteme). Dennoch kann die Partei noch immer auf die Unterstützung großer Teile der marokkanischen Bevölkerung zählen.
Laut jüngsten Wahlergebnissen konnte die PJD sogar in den Städten Tanger, Marrakesch und Fez an Stimmen noch weiter zulegen. Zudem hat die Partei ihren Einflussbereich durch die Einrichtung von Zweigstellen in ländlichen Gebieten, die früher von den Königsparteien dominiert wurden, ausgeweitet.
Zwischen Populismus und Opferrolle
Aufgrund ihres erweiterten politischen Wirkungsgrades innerhalb und außerhalb der Regierung konnte die PJD ihre Popularität innerhalb der Bevölkerung ausbauen. Am meisten beeindruckten die Minister der Partei Teile der Bevölkerung mit ihren Ankündigungen, an ihrem ursprünglichen politischen Vorhaben festzuhalten, allen möglichen Widerständen zum Trotz.
Auch wenn die Gegner von Ministerpräsident Abdelilah Benkirane bis heute kritisieren, er verbreite eine populistische Stimmung, so erntet dieser weiterhin großen Zuspruch von vielen Marokkanern, die von seinem Regierungsstil überzeugt sind. Benkiranes monatliche Treffen mit Parlamentariern dienten bislang dem Zweck, den Bürgern zu versichern, die Reformen konsequent durchzuführen und der Korruption ein Ende zu setzen.
Mit seiner Redegewandtheit und seiner Volksnähe weckt er bei den Bürgern den Eindruck, dass er den Kampf gegen die Korruption in ihrem Namen führt und auf ihre anhaltende Hilfe angewiesen ist. Sobald Benkirane Probleme bei der Umsetzung seiner Reformen bekommt, nimmt er in seinen Diskursen eine Opferhaltung ein, was von seinen Parteianhängern aber noch immer gut geheißen wird.
Außerdem pflegen örtliche Parlamentsabgeordnete weiterhin die direkte Kommunikation mit ihren Wählern und bieten dieselben sozialen Dienste an, wie zu Beginn ihres politischen Aufbruchs. Wie in jedem Jahr initiierten die islamistischen Parlamentarier auch im vergangenen März 2013 in allen Regionen Marokkos die sogenannte "Al-Misbah"-Karawane (das Wort arabische Wort "Misbah" heißt Lampe und stellt das Symbol der PJD dar).
Diese Aktion beinhaltete diverse Informationsveranstaltungen in mehreren Dörfern und Städten, um einerseits den direkten Kontakt mit den Bürgern zu fördern, andererseits eröffnete die Karawane dem Gesetzgeber die Möglichkeit, über die Erfahrungen in der Regierung und die aufgetretenen Probleme zu referieren und diese den Menschen zu erläutern.
Seit ihrem Machtantritt hat sich die Parteipolitik der PJD nicht wesentlich verändert, da die Beamten, die das Rückrat der Partei bilden, noch immer die Kommunal- und Staatspolitik lenken. Außerdem wird die PJD durch ein mit ihr verbundenes Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen erheblich unterstützt.
Kritik am "islamischen Experiment"
Nichtsdestotrotz äußern sich verschiedene politische Akteure (auch andere islamistische Gruppierungen) kritisch über die PJD, wobei der Erfolg des "islamischen Experiments" Marokkos immer mehr in Frage gestellt wird.
Dagegen mangelt es den meist durch das Königshaus kontrollierten Gegnern der PJD im Parlament (weitgehend bekannt als "administrative Parteien") an Legitimität im Volk. Die einzige Ausnahme ist die Sozialistische Union (USFP), die über ein wenig Unabhängigkeit verfügt, die aber von und internen Konflikten und Machtkämpfen gezeichnet ist, welche teilweise auf die bewussten politischen Manöver des Königshauses zurückgehen.
Für diese Eingriffe wurde das königliche Gefolge von Ministerpräsident Benkirane bereits mehrfach gerügt. Auch treten vermehrt Spannungen zwischen islamistischer Regierung und Königshaus auf, die ein Schlaglicht auf die gewachsene Rivalität auf politischer, administrativer und wirtschaftlicher Ebene werfen.
Die größte Herausforderung jedoch stellen wohl immer noch die Partner der PJD in der führenden Koalition dar, insbesondere die Istiqlal-Partei und die Volksbewegung (MP), auf die der Königspalast einen starken Einfluss ausübt. Wenn der Monarch etwa zu der Auffassung gelangt, dass die Fortführung der Regierung nicht länger in seinem Interesse ist, wird er beide Parteien dazu benutzen, damit die Koalition auseinanderbricht.
Genau dieser Fall ist Anfang Juli eingetreten: Die nationalistische Istiqlal, hatte ihr Ausscheiden aus der Koalition angekündigt und damit den Weg freigemacht für eine Kabinettsumbildung oder vorgezogene Parlamentswahlen.
Zeichen der Transparenz oder Islamisierung?
Bereits am 3. Januar hatte der Generalsekretär der Istiqlal-Partei eine Kabinettsumbildung gefordert, um den Reformprozess zu beschleunigen. Weitere Istiqlal-Mitglieder standen dem Reformvorschlag der PJD für Sozialversicherungen kritisch gegenüber und argumentierten, dass dieser Marokkos Kaufkraft schaden würde.
Sowohl in der Regierung als auch im Parlament können die Loyalisten des Königs den Initiativen der PJD einfach blockieren, insbesondere dann, wenn sie die Interessen der Monarchie gefährden. Ein Beispiel: Im April 2011 veröffentlichte der Transportminister der PJD, Abdelaziz Rabbah, eine Liste all jener Personen, die über eine innerstädtische Transportlizenz verfügten (viele dieser Lizenzen werden willkürlich, als königliche Gefälligkeit erteilt, und die Leistungsberechtigten verkaufen oder vermieten diese dann weiter).
Diese Demonstration von Transparenz wurde stark von den beiden Koalitionspartnern kritisiert und als populistische Handlung gewertet, die vorher nicht genügend überprüft worden sei. Ein weiterer Fall geht auf eine Initiative des Kommunikationsministers Mustapha Khalfi (ebenfalls PJD) zurück, die öffentlichen Rundfunkbestimmungen zu ändern.
Nachdem die Regierungsbehörde für audiovisuelle Kommunikation Khalfis Vorschlag (welcher außerdem vorsah, den Aufruf zum Gebet fünf mal täglich auszustrahlen und die Verbreitung des Glücksspiels zu verbannen) genehmigt hatte, missachtete eine Gruppe einflussreicher Journalisten diese Entscheidung und denunzierte sie öffentlich, mit der Behauptung die PJD wolle den nationalen Rundfunkdienst "islamisieren".
Politische Beobachter glauben jedoch, dass die Einwände der Journalisten in Wirklichkeit von Unsicherheit und Angst gegenüber den neuen Standards für Transparenz und guter Regierungsführung zeugten. Als der Streit zu eskalieren begann, intervenierte schließlich der König, nahm die neuen Bedingungen größtenteils zurück. Das Ministerium für Kommunikation bekam den Auftrag, eine überarbeitete Fassung des Entwurfs vorzustellen.
Die PJD im Interessenskonflikt
Diese Interventionen haben die PDJ in ihrer Überzeugung gestärkt, dass ein politischer Fortschritt ohne die Unterstützung durch das Königshaus kaum möglich sei. Benkirane hat sich nach diesen Erfahrungen bemüht, nicht in Ungnade des Königspalasts zu fallen und Konflikte zu vermeiden, auch wenn er damit auf die ihm laut Verfassungsänderung von 2011 garantierte Exekutivgewalt teilweise verzichten muss.
Im Spannungsfeld dieser Appeasement-Politik gegenüber dem Palast und der Verfolgung des eigenen islamistischen Reformprogramms gibt sich Benkirane pragmatisch. Aber vielleicht erhofft er sich davon auch nur kurzfristig, die vom Könighaus kooptierte Opposition zu schwächen.
Möglicherweise könnte diese Politik andeuten, dass der Ministerpräsident nicht wirklich der Kapitän auf dem Staatsschiff ist, sondern dass sich das Lenkrad noch immer in den Händen des Königs befindet. Benkirane jedenfalls versucht unbeirrt inmitten stürmischer Gewässer durchzuhalten, ohne dabei zu viele seiner eigenen Anhänger zu verlieren.
Mohammed Masbah
© Carnegie Endowment for International Peace 2013
Mohammed Masbah ist Gaststipendiat am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit (SWP) in Berlin.
Übersetzt aus dem Englischen von Julie Schwannecke
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de