Die Stadt als Provinz
"Meine Stadt ist ein Dorf, umgeben von schneebedeckten Bergen“, sagt Shohre, Anfang dreißig, Taxifahrerin. Es ist ihr Traumberuf. Der Haken: Schon, als sie ihren Berufswunsch als kleines Mädchen in der Grundschule erwähente, wurde sie schief angesehen. Ziemlich schief. Von der Lehrerin, von der Klasse.
Ihr Stadt ist die Millionenmetropole Kermanschah in Iran. Ein Dorf, rein mentalitätsmäßig. Shohre ist die Protagonistin in Maryam Djahanis Debütroman "Ungebremst durch Kermanschah“, in der Übersetzung von Isabel Stümpel im Oktober 2021 auf Deutsch erschienen.
In gewisser Weise ist dieses Buch eine kleine Sensation. Denn junge iranische Gegenwartsliteratur gibt es auf Deutsch sonst nur, wenn Autor oder Autorin im europäischen oder amerikanischen Exil leben – und dann wird in der Regel mehr über Politik, Flucht und Repression gesprochen, als über Literatur. Junge iranische Stimmen, nach der Revolution von 1979 geboren, im 21. Jahrhundert aufgewachsen, sucht man auf dem deutschen Buchmarkt vergeblich. Bis jetzt. Maryam Djahani ist Jahrgang 1986.
Schon als Teenager schrieb sie Lyrik. Inzwischen liegen zwei Romane und eine Sammlung mit Erzählungen von ihr vor. Um solche Bücher zu finden, braucht es Vermittlung. Diese kam, so ist vom Bremer Sujet Verlag zu vernehmen, durch die iranische Bestsellerautorin Fariba Vafi, deren Bücher dort ebenfalls auf Deutsch erscheinen – drei Romane bislang, zuletzt "Der Traum von Tibet“ (2018).
Kein Haupststadtroman: Kermanschah ist Provinz
Und das Buch ist – auch das ein Gegensatz zum Großteil der übersetzten iranischen Literatur – kein Hauptstadtroman. Auch wenn Kermanschah die nördliche Lage und die Berge mit ihren weißen Gipfeln mit Teheran gemein hat, genauso wie die kalten, schneereichen Winter, die auch das Setting des Buches bilden.
Zielsicher steuert Shohre ihr Taxi durch den chaotischen Stadtverkehr, hört dabei HipHop und kurdische Rockmusik. Platte Reifen wechselt sie selbstverständlich selbst, während unkende Jugendliche ganz schnell verstummen. Frauen, die bei ihr einsteigen, freuen sich auf Anhieb; den abfälligen Sprüchen von Männern, denen zu einer Frau am Steuer nur Spott einfällt, begegnet sie schlagfertig.
Die Männer, sagt sie, haben hier eine Bergbauernmentalität. Kermanschah: eine Großstadt als Hort des Konservatismus. Shohres Vater war es, der sie immer unterstützt hat und sich dafür heftige Kritik anhören musste.
Jeder wollte ihm erklären, wie er seine Tochter zu erziehen hat. Er hat das an sich abprallen lassen. Doch Shohres Vater ist tot. Und ihre Mutter? "An dem Tag, als ich Taxifahrerin wurde, sagte Mutter: Innerhalb von vier Jahren wirst du es bereuen. Wenn sich kein Mann mit dir einlässt.“
Ausgerechnet die Mutter kommt nicht damit zurecht, dass ihre Tochter einen eigenen Kopf hat und sich nicht um all die Gesellschafts- und Familienkonventionen schert.
Dabei hat Shohre die Sache mit der Ehe durchaus ausprobiert, sich aber rasch wieder scheiden lassen, ebenso wie ihre bei ihr untergeschlüpfte Cousine Mahbube, die mit ihrem Ex-Mann um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter prozessiert und darunter leidet, dass sie ihr Kind seit Monaten nicht gesehen hat.
Am Puls der Stadt und einer ganzen Gesellschaft
Mahbube, so scheint es, ist ihre einzige intime Gesprächspartnerin. Andererseits sind die Gespräche im Taxi prägend: Sie sind der Puls nicht nur der Stadt, sondern einer ganzen Gesellschaft. Im Taxi spricht man offen, es ist ein abgeschlossener Raum – was im Taxi gesagt wird, bleibt im Taxi. Meistens jedenfalls. Und so sind auch all die kleinen Begegnungen die heimliche Hauptfigur des Buches neben den verschneiten Straßen und Gassen, neben dem Taxi selbst, das Shohre "Elisabeth“ getauft hat.
Das Leben auf der Straße: Eine Einsamkeit unter vielen. Aber weniger einsam, als es Shohre in ihrer Ehe war: "Eines Morgens hatte ich das Gefühl, ich wäre soeben aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht, an einem fremden Ort. Die Möbel kamen mir bedrückend fremd vor. Auch die frohe Farbe von Hameds T-Shirt und seine cremefarbene Hose waren mir fremd. Ich fühlte, dass ich weder ihn kannte, noch diese Wohnung.“ Ein Gefühl, das sie hinter dem Lenkrad nicht hat. Am Steuer hat sie die Kontrolle, was wohl ein tragender Grund für ihren frühen Berufswunsch war: selbst die Richtung vorgeben zu können. Den Weg besser zu kennen, als die Fahrgäste. Den Preis zu bestimmen.
Doch etwas brodelt in Shohre. Etwas, das lange zurück liegt und sie nicht loslässt. Weshalb sie immer wieder am Friedhof vorbeifährt und eine Pause einlegt bei den Toten...
Maryam Djahani ist mit "Ungebremst durch Kermanschah“ ein interessantes und lesenswertes Buch gelungen, dessen einzige Schwäche die stellenweise etwas holprige deutsche Übersetzung ist – aber das ist keineswegs der Autorin anzulasten und macht den Roman nicht weniger relevant. Shohre ist nicht zuletzt deshalb eine bemerkenswerte Figur, weil sie die Leserinnen und Leser am Leben junger Menschen in Iran teilhaben lässt. So ermöglicht der Roman einen Blick hinter die Kulissen eines Landes, über das zwar viele Klischees kursieren, von dem aber in Europa nur wenige ein realistisches Bild haben – was nicht zuletzt am Mangel junger iranischer Literatur in deutscher Sprache liegt. Umso mehr ist zu wünschen, dass diesem Roman noch weitere folgen werden.
© Qantara.de 2021
Maryam Djahani, "Ungebremst durch Kermanschah“, Sujet Verlag 2021, 255 Seiten
Maryam Djahani wurde 1986 in Kermanschah geboren. Sie hat Literaturwissenschaften studiert und bisher zwei Romane und einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Sie hat zahlreiche Literaturpreise bekommen, für den Roman "Ungebremst durch Kermanschah“ erhielt sie den renommierten Djalal Aleahmad-Preis.