Zwei Welten unter einem Himmel
Mitte Februar veranstaltete die Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen mit der Literaturwerkstatt Berlin eine Podiumsdiskussion und Lesung zum Thema "Das Fremde und das Eigene".
Aufgereiht vor dem Riesenfoto einer schwarzen Kulturkarnevalistin im weißen Federkleid, gingen die Teilnehmer der Frage nach, ob die Migration in der deutschen Gegenwartsliteratur angekommen sei. Schriftsteller mit Migrationshintergrund, so der Tenor der anwesenden Autoren und Experten, seien längst Teil des deutschsprachigen Literaturestablishments.
Mit auf dem Podium saß jedoch auch Meral Cerci, Leiterin des Forschungsprojekts Interkultur in Nordrhein-Westfalen. Und ihr vernichtendes Fazit lautete: Abgesehen von der so genannten Migrationsliteratur spiegelt die deutsche Gegenwartsliteratur die "hiesige Gemengelage der Kulturen" keinesfalls wider.
Kulturelle Vielfalt als Aushängeschild
Langsam ist es schon ein alter Hut: Autoren mit fremdem kulturellem Hintergrund sind im Mainstream der deutschsprachigen Literatur angekommen:
Namen wie Sherko Fatah, Ilja Trojanow, Terezia Mora und Saša Stanišić finden sich regelmäßig im Feuilleton und auf den Nominiertenlisten für die großen Literaturpreise. Junge Literaten wie Kristof Magnusson und Milena Oda dürfen ihre Meinungen zu Themen wie der isländischen Finanzkrise oder Milan Kunderas Verwicklung in den Geheimdienst in der Presse abgeben.
Und einige von Deutschlands gefragtesten Meinungsmachern zum Thema Europa und Islam sind Schriftsteller wie Zafer Şenocak und Navid Kermani.
Diese Autoren sind inzwischen weit davon entfernt, eine Exotik nach Art des Karnevals der Kulturen ausstrahlen zu müssen, um überhaupt verlegt zu werden. Auch ihre Themenpalette hat sich erheblich erweitert; es wird nicht mehr von ihnen erwartet, ausschließlich über Migrationsthemen zu schreiben.
Die interkulturelle Vielfalt der deutschsprachigen Literatur wird mittlerweile als Aushängeschild im Ausland hochgehalten, etwa in der Buchausstellung "Der andere Blick" des Goethe-Instituts, die in sieben ehemaligen Ostblockländern gezeigt wurde.
Auch in Deutschlands Film- und Fernsehlandschaft sind Migration und kulturelle Vielfalt ein Thema. Wie Cerci anmerkte, haben Fernsehmacher ein Auge für ihr Publikum und achten oft genau darauf, dass in ihren Sendungen auch ethnische und andere Minderheiten repräsentiert werden. Ob Seifenoper, Krimi oder Kinderfernsehen: Migrantenfiguren sind keine Seltenheit mehr.
In der Kinder- und Jugendliteratur sieht es ähnlich aus. Kinderbücher strotzen regelrecht vor ethnisch gemischten Cliquen und interkulturellen Beziehungen, und Autoren sind oft bestrebt, Themen wie Rassismus, Integration und kulturelle Vielfalt abzudecken. Aber in dem Moment, wo literarische Ansprüche Vorrang vor pädagogischen haben, sucht man plötzlich lange nach Figuren mit nichtdeutschen Wurzeln.
Die Wagemutigen
Es gibt sie doch: Ein paar mutige deutschstämmige Schriftsteller wagen den Sprung ins Fremde. Doch oft arbeiten sie mit gewissen Tricks, um ihre Figuren glaubhafter zu machen.
Ein klassisches Beispiel ist Jakob Arjouni. Die Hauptfigur seiner Krimireihe ist der Detektiv Kemal Kayankaya, der zwar türkischer Abstammung, aber als Adoptivkind in einer deutschen Familie aufgewachsen ist. So konfrontiert Arjouni seine Leser mit dem Thema Rassismus, ohne eine türkische Familien- oder Kulturgeschichte für seine Figur aufbauen zu müssen.
Der junge Autor Finn-Ole Heinrich fährt in seinem Debütroman Räuberhände eine ähnliche Strategie. Seine Figur Samuel erfährt erst als Jugendlicher, dass sein ihm unbekannter Vater Türke war. Samuel taucht in eine neue orientalische Welt ein – die er sich selbst aus allen möglichen Klischees und Fantasien zusammenzimmert.
Ein zweiter Ansatz ist die gastronomische Schiene. In Deutschland – wo man inzwischen sogar Kartoffelchips mit "Dönergeschmack" findet – begegnen sich Kulturen scheinbar am ehesten am Esstisch. Zwei Romane der letzten Jahre greifen dieses Thema auf:
Der Islamwissenschaftler Michael Lüders erzählt in Aminas Restaurant, wie eine marokkanische Familie das Leben ihrer Bremer Gäste durch orientalische Gerichte und Geschichten gleichsam verzaubert. Angefeindet von Rechtsradikalen und islamischen Fundamentalisten, überlebt das Restaurant nicht länger als einen Sommer – doch den exotischen Neuankömmlingen gelingt es trotzdem, ein harmonisches Miteinander der Kulturen im Viertel heraufzubeschwören.
Die Ausnahmeliteraten
Zwei große Ausnahmen scheint es zu geben, die sich etwas näher an den Migrationsstoff herantrauen; die erste bildet der Schriftsteller Thorsten Becker. Sein 2004 erschienener Roman Sieger nach Punkten breitet wortreich die Geschichte eines Boxers und Kindes der türkischen Gastarbeitergeneration aus, begleitet von einem Rundumschlag der türkischen Geschichte seit alttestamentarischen Zeiten.
Becker, selbst mit einer Türkin verheiratet, schreibt an gegen die Ignoranz, die der Autor in Deutschland Türken gegenüber reichlich vorfindet. Das mag erklären, warum das Buch einen gewissen pädagogischen Grundton hat und seine arg gebeutelten Figuren beinahe alles erleiden müssen, was Türken in Anatolien und hierzulande an Katastrophen passieren könnte.
Es mutet schon fast wie eine sehr gut geschriebene Telenovela an, wie die Familie sich durch Brautentführung, Blutfehde, Armut, Behinderung, Betrug, Auswanderung, räumliche Trennung, eine heimliche deutsche Geliebte, Schulprobleme, Drogenhandel und Alltagsrassismus kämpft und bis zum traumhaften Ende durchboxt.
Trotzdem ist das bewegende Moment nicht Mitleid, sondern Sympathie mit der schalkhaften Hauptfigur Nasrettin, einem geborenen Gewinner.
Der zweite Ausnahmeautor ist Raul Zelik. Trotz exotisch angehauchten Namens besteht sein eigener Migrationshintergrund lediglich aus einem Umzug von Bayern nach Berlin. Zelik wagt aber das scheinbar Unmögliche – und erzählt als ethnisch Deutscher Geschichten über ebenjene kulturelle Gemengelage, die Cerci sonst in der Gegenwartsliteratur vermisst.
Seine Romane und Erzählungen sind – sofern die Handlungen nicht im Ausland stattfinden – von Abiturtürken, gelockten alewitischen Schönheiten, Mixedpicklejugoslawen, Du-darfst-Ausländern und rumänischen Bauarbeitern bevölkert, natürlich neben Kartoffelstudenten, Ossis, Punks und Rudower Reihenhauskids.
In seinem ebenfalls 2004 veröffentlichten Roman bastard ist die Erzählerin eine Deutsche koreanisch-portugiesischer Abstammung, die in Korea auf die Suche nach ihren Wurzeln geht – in bewusster Anlehnung an Alex Haleys Roman Roots über eine afroamerikanische Wiederentdeckung der eigenen Geschichte im fernen Afrika. Identität als Dauerkrise.
Parallelgesellschaft der deutschen Literaten?
Warum aber bleiben diese wenigen Autoren Ausnahmen? Warum haben Deutschlands Erzähler im Großen und Ganzen kein Interesse an Figuren aus anderen Kulturen? Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, fragte einige Autoren – anonym –, warum sie sich an das Thema nicht herantrauen.
Die Antwort: Angst. Man habe die Befürchtung, nicht authentisch darüber schreiben zu können. Und man möchte keine Befindlichkeiten verletzen.
Wenn man davon ausgeht, dass das Personal der Gegenwartsliteratur aus der Erfahrungswelt der Autoren rekrutiert wird, spiegelt diese Armut an Migrantenfiguren dann also eine Kluft in der deutschen Gesellschaft wider? Leben Schriftsteller in ihrer eigenen Parallelgesellschaft aus Verlagspartys und Literaturhäusern, welche Menschen aus anderen Kulturen ausblendet?
Ein Blick über den Ärmelkanal ist vielleicht aufschlussreich, um den unterschiedlichen Umgang der Literatur mit ethnischen Minderheiten aufzuzeigen.
Migration in der britischen Literatur
Tatsächlich versuchen Autoren aus Großbritannien eher, eine ethnisch gemischte Gesellschaft abzubilden. Und es sind nicht nur die Kinder und Enkel der einstigen Einwanderer wie Zadie Smith, Gautam Malkani und Andrea Levy, die sich des Themas annehmen, und auch nicht nur anhand von Nebenfiguren.
Der weiße Schriftsteller Patrick Neate zum Beispiel erkundet als Erzähler moderne kulturelle Identitäten, etwa die einer italo-schwarzen Ex-Prostituierten in Twelve Bar Blues oder die eines Londoner Uganda-Inders, der als Privatdetektiv mit Mudschahedin-Hintergrund in City of Tiny Lights terroristische Machenschaften aufdeckt.
Und Rose Tremains preisgekrönter Roman The Road Home schildert London aus der Perspektive eines frisch eingetroffenen Arbeitsmigranten aus einem ungenannten osteuropäischen Land.
Nachrichtensprecher und Schulleiter
Nun haben die deutschsprachigen Staaten eine ganz andere Migrationsgeschichte als Großbritannien, unter anderem deshalb, weil sie später einsetzte.
Auch die sprachlichen und gesetzlichen Voraussetzungen sind unterschiedlich: Während die ersten Einwanderer der Nachkriegszeit aus den ehemaligen Kolonien nach England kamen und von vornherein über Englischkenntnisse und britische Pässe verfügten, ist ein Teil der Migranten in der deutschsprachigen Welt noch heute von der politischen und kulturellen Teilhabe ausgeschlossen.
Deutschland verankerte die Gleichbehandlung von ethnischen Minderheiten erst 2006 im Gesetz, Großbritannien mit dem ersten Race Relations Act geschlagene 30 Jahre früher.
Obwohl Großbritannien durchaus nicht frei von Rassismus und Diskriminierung ist, werden ethnische Minderheiten im öffentlichen Leben tatsächlich viel stärker wahrgenommen als in Deutschland – vom alt gedienten, in Trinidad geborenen Nachrichtensprecher Trevor MacDonald bis zum indischstämmigen Schulleiter Pritpal Singh, die beide übrigens in den Ritterstand erhoben wurden.
Keine literarischen Erkans und Stefans
Gerade im Gegensatz zu Ländern wie Großbritannien bleiben Migranten und ethnische Minderheiten anscheinend für viele Menschen hierzulande im Großen und Ganzen unsichtbar, nicht nur für Schriftsteller.
Darin liegt vermutlich auch einer der Hauptgründe dafür, dass sie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht präsent sind. Der insofern begrenzte Erfahrungshorizont der deutschen Autoren scheint also ein Stück weit die Realität der Mehrheit abzubilden. Aber ist diese Kluft – in der Literatur – wirklich so schlimm?
Man kann Schriftsteller nicht verpflichten, über bestimmte Themen zu schreiben. Und unter den gegebenen Umständen würde wohl jeder Versuch seitens monokulturell geprägter deutscher Autoren, einen fröhlich-bunten ethnischen Figurenmix einzuführen, nahezu unausweichlich in die reinste Peinlichkeit münden.
Auf eine neue Stellvertreterliteratur à la Ganz unten, mit Migranten in der Opferrolle und dem deutschkulturellen Autor als Held der Einfühlung, kann man vermutlich getrost verzichten. Und müssen deutschstämmige Autoren unbedingt über Migration schreiben, wenn sie keine Ahnung davon haben? Reicht es denn etwa nicht aus, wie Terezia Mora am Ende der Diskussion zugespitzt formulierte, wenn Migranten selbst über Migranten schreiben?
Katy Derbyshire
© Qantara.de 2009
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