Neue Chancen in Subsahara-Afrika
An der einmal im Monat stattfindenden öffentlichen Säuberungs- und Putzkampagne "Umuganda" nimmt Insaf Boughdiri gerne und regelmäßig teil. Die Aktion sei beeindruckend, findet die in der ruandischen Hauptstadt Kigali lebende Tunesierin.
"Die Kampagne entspringt einer Tradition, durch die die Bürger Ruandas ihr Land sauber halten und zugleich für Freiwilligenarbeit zur Stärkung der Gemeinschaft werben", so erlebt es die Tunesierin.
"Die Kampagne fördert Disziplin, den Sinn für Sauberkeit und Arbeit und den gemeinsamen Willen, das Land aufzubauen und seine Entwicklung zu fördern", sagt sie im Deutsche Welle-Gespräch. Es seien diese Tugenden, die sie am meisten beeindruckten, so die Tunesierin.
Boughdiri ist erst vor kurzem aus Tunis nach Ruanda gekommen. Sie hat einen Master in Rechtswissenschaften und bringt rund zwei Jahrzehnte Erfahrung in der französischsprachigen Presse und beim Fernsehen in Tunesien mit. In Kigali arbeitet sie für die Afrikanische Organisation für Landwirtschaft, deren Team für Kommunikation und Information sie verstärkt. Nach einer dreimonatigen Probezeit hält sie nun einen Zweijahresvertrag in den Händen.
Die Entscheidung für ein fremdes Land habe sie ganz bewusst getroffen, sagt Boughdiri. Zwar habe sie sich wie zahlreiche andere Tunesierinnen und Tunesier für die Revolution des Jahres 2010 begeistert. Nun aber suche sie eine neue Erfahrung. Warum, habe sie sich gefragt, nicht in Subsahara-Afrika?
Insaf ist eine von Tausenden Tunesierinnen und Tunesiern, die meisten von ihnen am Beginn ihres Berufslebens, die ihre Chance angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krise des Landes nicht mehr in Europa oder den Golfstaaten suchen, sondern auf dem eigenen Kontinent. Rund 226.000 Arbeitslose mit Hochschulabschluss gibt es in Tunesien. Und viele von ihnen betrachten die Auswanderung mit neuen Augen.
Mehr als 70 Prozent der befragten Hochschulabsolventen trügen sich mit dem Gedanken, ins Ausland auszuwandern, ergab eine kürzlich erschienene Studie eines arbeitgebernahen Instituts in Tunesien. Besonders wichtig sei den Absolventen dabei, das richtige Ziel zu finden.
Europa heißt Migranten nicht willkommen
Sie selbst habe nie erwogen, nach Europa auszuwandern, sagt Insaf. "Denn das setzt eine rechtlich einwandfreie Regelung voraus, etwa einen Arbeitsvertrag. Fehlt der, muss man sich auf viele Schwierigkeiten und Probleme einstellen." Das habe sie vermeiden wollen.
Über Ruanda konnte sich Insaf vor der Ausreise nur sehr rudimentär informieren. Seit ihrer Ankunft vor einigen Monaten hat sich ihr Wissen allerdings erweitert. "Ich habe ein Land der Solidarität entdeckt", sagt sie der Deutschen Welle. "Die Menschen haben Bürgerkrieg und Völkermord hinter sich gelassen und begonnen, ihr Land aufzubauen. Inzwischen ist es hier sauber und organisiert, und das Land hat eine gute digitale Infrastruktur. Man lebt sehr gut hier."
Rund 1,7 Millionen Tunesierinnen und Tunesier haben ihr Land auf der Suche nach Arbeit verlassen. Mehr als 80 Prozent von ihnen leben in Europa. Tunesische Communities gibt es aber auch in weit entfernten Ländern wie China, Japan, Singapur, Taiwan und Indien.
Noch existieren keine zuverlässigen Statistiken über die Zahl der Tunesier, die ihr Glück in Subsahara-Afrika versuchen. Fest steht aber, dass einige Länder südlich der Sahara für Arbeitskräfte aus dem Ausland immer attraktiver werden - auch dank Förder- und Investitionsprogrammen, die die Europäische Union finanziert.
Tatsächlich sei der Norden längst nicht mehr das einzige Ziel, das jungen arbeitssuchenden Tunesiern in den Sinn komme, sagt Ramadan Ben Omar, Migrationsexperte und Mitglied der unabhängigen Organisation Tunesische Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte (Tunisian Forum for Social and Economic Rights, FTDES), der Deutschen Welle. "Zugleich gibt es im Süden Afrikas eine wachsende Nachfrage nach Arbeitskräften, und zwar nicht nur nach Akademikern, sondern auch nach Menschen mit einfacher Ausbildung. So kommen zwei passende Trends zusammen."
Diese Entwicklung bestätigt auch Anis Belidi. Der junge Tunesier arbeitet in der gabunischen Hauptstadt Libreville in einem von libanesischen Investoren getragenen Einzelhandelsunternehmen.
Anis entschloss sich 2018 zur Auswanderung nach Gabun. Seine Frau und seine beiden Töchter ließ er in Tunesien zurück. "Es war eine schwierige und für meine Familie überraschende Entscheidung", erzählt er der Deutschen Welle. "Eigentlich hatte ich nach Frankreich gehen wollen, doch das erwies sich als schwierig." Zwar sei es in Gabun zunächst alles andere als leicht gewesen. "Doch nach und nach verbesserte sich die Lage. Jetzt geht es mir hier besser als zuvor in Tunesien - auch finanziell."
Dynamisches Wirtschaftswachstum in Westafrika
Die derzeitige Dynamik gehe vor allem auf das Wachstum mehrerer Volkswirtschaften in Westafrika zurück, sagt Migrationsexperte Ben Omar. Auch im kommenden Jahrzehnt werde dieser Trend anhalten, insbesondere angesichts der zu erwartenden Fertigstellung des afrikanischen Teils von Chinas Neuer Seidenstraße. Dieser soll absehbar die bedeutendsten Städte Subsahara-Afrikas mit den Metropolen in Nordafrika verbinden. Trotz Schattenwirtschaft und Intransparenz gedeiht die Wirtschaft in einigen Ländern des Kontinents.
Ähnlich sieht es auch Sonya Mounir. Die Psychotherapeutin arbeitet seit mehr als elf Jahren für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in mehreren westafrikanischen Ländern. Seit 2019 lebt sie in Dakar, der Hauptstadt Senegals, und ist Regionaldirektorin für reproduktive Gesundheitsprogramme für West- und Zentralafrika.
Zwar hätte sie dank ihrer Qualifikation auch in Europa eine Stelle finden können, sagt sie der Deutschen Welle. "Dennoch habe ich mich entschieden, im Senegal zu leben. Ich arbeite sehr gerne hier. Das Leben ist angenehm, es gibt Studien- und Arbeitsmöglichkeiten und auch gute Freizeitangebote", sagt Sonya Mounir.
Gefördert wird der Trend zur Migration in den Süden auch durch eine ganze Reihe tunesischer Unternehmen, die in Staaten südlich der Sahara Büros und Repräsentanzen gründen. Der Markt boomt, und diese Chancen wollen sich die tunesischen Unternehmer nicht entgehen lassen. Ihre Niederlassungen wiederum bieten zahlreichen Landsleuten eine Chance.
Tarak Guizani
© Deutsche Welle 2022
Aus dem Arabischen adaptiert von Kersten Knipp