Über geografische und kulturelle Grenzen hinweg
Ein zentrales Anliegen in der anhaltenden deutschen Integrationsdebatte ist die Forderung nach der Öffnung kultureller Institutionen wie etwa Museen und Konzertsäle für außereuropäische Kultur – um das deutsche Publikum an die Migrationsgesellschaft heran –, aber auch die Migranten in die "hohen Hallen" hereinzuführen.
Wenn dann alles richtig läuft, wie beispielsweise seit längerem in der Kölner Philharmonie, dann hört man neben Smetana, Grieg und Beethoven auch Darbietungen regionaler Ikonen wie Mohammad Reza Shadscharian, Sezen Aksu und Anwar Brahim. Wie derart auch der Begriff "Hochkultur" durch Migration und Globalisierung beeinflusst und verändert wird, führt eine Veranstaltungsserie der Elbphilharmonie Hamburg und der Kölner Philharmonie deutlich vor Augen und Ohren.
"New Sounds of Iran" initiiert von der neuen Kölner "Akademie der Künste der Welt" und dem Verein "Diwan" ist wohl das europaweit größte Festival iranischer Musik. Es ermöglicht vor allem eine Passage durch die jüngsten Entwicklungen iranischer Musik – und zeigt, dass sich auch dort Traditionen im Wandel befinden, in einer produktiven Auseinandersetzung unterschiedlicher Strömungen aus Ost und West, Nord und Süd.
Globale Melancholie
Dabei umfasst die virtuelle Karte, die "Musik des imaginären Iran" – um einen ursprünglich auf die Türkei gemünzten Buchtitel des Musikethnologen Martin Greve zu verwenden – nicht nur das iranische Homeland, sondern naturgemäß auch das rege Exil mit seiner Diaspora. So lebt ein großer Teil der iranischen Musik-Avantgarde in Europa, Kanada oder den USA: Der zermürbende Genehmigungsprozess für Konzerte oder CDs durch das sittenstrenge Erschad-Ministerium treibt viele Bands und Musiker früher oder später aus dem Land.
Mittlerweile über die USA und Kanada zerstreut, ist auch die 2003/04 in Teheran gegründete Kultband "Kiosk": Frontmann Arash Sobhani singt männlich-melancholisch über die Malaise der Megacity Teheran oder den Stress einer Facebookfreundschaft, kann aber auch sarkastisch über den einflussreichen Pistazienmilliardär und Ex-Präsidenten Rafsandschani herziehen.
Die satirischen Texte, sind - seitdem Sobhani in San Franscisco lebt – noch eindeutiger geworden. Das ist in gewissem Sinne eine Kreisbewegung, eine Rückkehr zum Ursprung. Laut Sobhani entstammt die für "Kiosk" typische Verbindung von Humor und Politik der amerikanischen Beatbewegung; diese erreichte die Band im Iran über die Texte von Leonard Cohen, Bob Dylan und Dire Straits – alle auch unverkennbare musikalische Inspirationsquellen für den von Blues, Rock und Folk geprägten Stil der Band.
Genau diese Mischung scheint den Mentalitäten und Verhältnissen im Iran sehr zu entsprechen, und findet sich auch - je nachdem mit mehr Melancholie oder Trotz vorgetragen - bei anderen Undergroundstars; am bekanntesten sind wohl die Exilanten Mohsen Namjoo und Shahin Nadschafi – beides Virtuosen, bei denen auch andere Einflüsse herauszuhören sind: ein deutlicher Bezugspunkt ist die traditionelle Musik des Iran.
Der Graben zwischen den Generationen
Es ist ein schwieriges Terrain: Der Graben zwischen E- und U-Musik trennt auch im Iran die Generationen und deutet indirekt auf eine dort vorherrschende substanzielle Kluft hin: dass einige Patriarchen ihre konservative Lebensweise einer überwältigend jungen Bevölkerung aufnötigen, die per Satelliten-Fernsehen und Internet schon an ganz anderen Welten teilhat.
Viele der jetzt in Köln und Hamburg erstmalig gemeinsam auftretenden Bands, Ensembles und Musiker suchen bei ihren Fusion-Experimenten bewusst die Nähe zu den klassischen Traditionen, um die Jungen und die Alten therapeutisch auszusöhnen.
Sorush Ghahramanlou aus Mashad ist eine Art Jimi Hendrix der dreisaitige Setar: das klassische Instrument wird von ihm, elektrisch verstärkt und verzerrt, zum Grooven gebracht, bis er ihm bislang unerhörte Nuancen entlockt. Gleichzeitig werden bei den dynamischen Konzertauftritten seiner Crossover-Band "Nioosh" animierte Kalligrafien der Nasta’liq’-Schrift projiziert, die aus dem 14. Jahrhundert stammt.
Es sind also nicht nur Underground-Bands, sondern klassisch erstklassig ausgebildete Musikkünstler, die – in wechselnden Formationen, untereinander vernetzt und miteinander interagierend –, neue Stilrichtungen ausprobieren. Pedram Derakhshani, schon früh ein Meister auf der Santur, entlockt den 72 Saiten des waagerecht auf dem Boden liegenden Holztrapezoids mit zarten Holzklöppeln sphärische Klänge zwischen Sitar, Spinett und Synthesizer.
Bereits mit 19 Jahren war er mit dem legendären Dastan-Ensemble auf Welttournee, wo er verschiedenste Stilrichtungen kennenlernte. Aktuell widmet sich der 39-Jährige dem bedeutenden mittelalterlichen Mystiker Mewlana Rumi: doch ob das Album nun rockig-energetisch klingt, mit treibenden lateinamerikanisch anmutenden Bläsersätzen, oder ob es eher an entspannende Elektro-Ambiente-Musik erinnert – häufig bilden der Gesang und die mystischen Texte das unverkennbar iranische Element.
Die vieldeutige symbolische Lyrik der Klassiker bildet im Iran selbst ein Mittel, um die Zensur zu umgehen. Außerhalb des Landes wird sie zum Bindemittel, das den nationalen Identitätskern auch in den verschiedensten musikalischen Ausformungen zusammenhält.
Multikulti statt Ethnozentrik
Zweierlei Wege ermöglichen die Öffnung dieser ehrbaren Traditionen, ohne gleich in den Schmus des Popkitsches abzustürzen, der in Teheran ebenso unerträglich ist wie in "Tehrangeles", der großen Exilgemeinde von L. A.
Das eine ist die Öffnung nach Innen, zum bunten Spektrum der iranischen "Multikultur". Die musikalische Hochkultur wurde allzu lange nur über den Bezug zum rein Persischen definiert, die reiche Fülle regionaler und lokaler Traditionen in dem Vielvölkerstaat blieb außen vor.
Die arabisch-afrikanischen Musikkulturen des iranischen Südens rund um Bandar Abbas wurden in der Populärkultur, im Kino immer schon gerne als exotisch-lustige "Bandari"-Unterhaltung verspottet. Das Ensemble von Said Shanbehzadeh behauptet gegenüber dieser Ethnozentrik selbstbewusst seinen "Buscheri"-Stil: In seiner Heimat, der Hafenstadt Buschehr am Persischen Golf, mischen sich verschiedenste Elemente nichtpersischer Folklore: indische, arabische und zentralafrikanische Rhythmen, Tranceeinflüsse der Geisterbeschwörer. Man meint Reggae Jazz und Rock herauszuhören.
Der Rap, den die Musiker der Küstenregion pflegen, kam nicht über MTV hierher, sondern viel früher: aus Afrika, über Hormoz und Menab, die Sklavenmärkte des 17. Jahrhunderts. Shanbehzadeh, dessen Vorfahren aus Sansibar stammen, setzt regionale Instrumente ein: den Neyanboo – einen mächtigen Dudelsack - oder das Boogh – ein Horn, tritt aber auch mit Posttraditionalisten wie Pedram Derakhshani oder dem Schnulzensänger Kamran Rasoulzadeh auf.
Hybrides Spiel mit der eigenen Herkunft
Der andere Weg, die Klassik zu öffnen, besteht im hybriden Spiel mit den eigenen Herkünften: Die Londoner Band "Ajam" weiß darum, dass dieses kulturelles Erbe in der Diaspora zunehmend schwerer wird, sie werfen munter alles über Bord und durcheinander, und spielen etwa Hiphop auf traditionellen Instrumenten.
"Ajam" ist der gerne auf Iraner gemünzte arabische Terminus für nicht-arabische Muslime, so sind ihre Videos urbane Collagen voll selbstironischer Inszenierungen mit persischen Accessoires: volles Taxi, Wasserpfeife, Schnauzbart und mit Kajal umrandete Augen. In ihren Texten besingen die Londoner genau diesen "Clash der Kulturen" als neuen Lifestyle
Man könnte das alles auch mit Radau abschütteln, wie etwa die Teheraner Postpunk-Band "Hypernova" die inzwischen in den USA mit "Fairytales" einen Hit landeten. Oder wie die nicht abreißende Metal-Mode: wenn in Teheran zu der Musik von "Arsames" bis "Hyper Planet" Köpfe geschüttelt werden, ist das keine Missbilligung – man nennt es Headbanging.
Die Grenzen dessen, was "traditionell" bedeutet, werden in der iranischen Musik gerade gedehnt. Und was dabei alles an Neuem entsteht, könnte inspirierend auch für die westliche Musiklandschaft sein.
Amin Farzanefar
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de