Wahlverzicht wäre keine gute Wahl
Es gibt türkischstämmige Wahlberechtigte, die allen Ernstes dem Appell des türkischen Staatspräsidenten folgen wollen. Erdoğan hatte Deutschtürken dazu aufgefordert, CDU, SPD oder Grünen keine ihrer Stimmen zu geben. Absurd zu meinen, Erdoğans Boykottaufruf folgend den angeblich türkeifeindlichen Parteien einen Denkzettel verpassen zu können!
In den Sozialen Medien kursieren Empfehlungen an türkischstämmige Stimmberechtigte, in Nordrhein-Westfalen (NRW) die "Allianz Deutscher Demokraten" (ADD) zu wählen. Es ist das einzige Bundesland, in dem die vor einem Jahr von Erdoğan-Anhängern gegründete ADD zur Wahl antritt. Was Parteigründer und Kandidaten veranstalten, ist Realsatire: Sie werben mit Erdoğans Konterfei auf Wahlplakaten um Stimmen für den Bundestag.
Im Netz kursieren auch Wahlempfehlungen, die sich an Muslime generell richten und etwa dafür werben, für das "Bündnis Grundeinkommen" zu stimmen. Es gibt aber auch Boykottaufrufe - mit dem Argument, für Muslime sei es "haram", also Sünde, sich an den Wahlen zu beteiligen. Oder mit dem Hinweis, die etablierten Parteien seien dem Islam und den Muslimen gegenüber feindlich eingestellt.
Glücklicherweise leben wir hier in einer Demokratie. Um das Wahlrecht beneiden uns viele – gerade auch Menschen in islamisch geprägten Ländern. In Deutschland haben volljährige Staatsbürger das Wahlrecht, zum Gang an die Urne wird aber keiner gezwungen. Jeder Wahlberechtigte kann entscheiden, ob und welcher Partei er seine Stimme gibt. Wer als Erdoğan-Anhänger oder als Muslim nicht zur Wahl geht, tut sich selbst keinen Gefallen. Darauf machen kurz vor der Bundestagswahl auch einige der Islamverbände aufmerksam.
Wahl-Entscheidungshilfen für Muslime
Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş beispielsweise hat unter dem Hashtag #WählenGehen ein achtteiliges Videoprojekt gestartet. Eine Entscheidungshilfe mit dem Titel "Deutsch-Muslimischen-Wahlkompass" wiederum hat der Zentralrat der Muslime in Kooperation mit der "Islamischen Zeitung" und der "Deutschen Muslim Liga" veröffentlicht.
Für fromme Muslime ist es zweifelsohne relevant, wie welche Partei zum Kopftuchverbot steht und welche religiösen Praktiken langfristig in diesem Land möglich sein werden. Ohne die Diskussionen rund um das Kopftuchverbot und Bekleidungsvorschriften, die Beschneidung von Jungen, Schlachten ohne Betäubung sowie Moscheebauten verharmlosen zu wollen: Auf das Recht zur Stimmabgabe verzichten, weil keine der zur Wahl stehenden Parteien sich ausdrücklich für die Interessen von Muslimen einsetzt, kann keine gute Wahl sein!
Es gibt Probleme, die für Bürger dieses Landes jenseits ihrer religiösen Zugehörigkeiten wichtig sind. Arbeitslosigkeit etwa. Oder auch Altersarmut; sie betrifft nicht nur Alteingesessene, Atheisten und Christen, sondern auch Migranten und Muslime.
Und wer in der Bildungspolitik nur den Fokus darauf richtet, welche Partei sich für den islamischen Religionsunterricht einsetzt, der verkennt, dass es dabei vor allem auf etwas anderes ankommt: auf eine Politik nämlich, die sich für die Chancengleichheit von allen Kindern und Jugendlichen engagiert.
Eingehender Blick in die Wahlprogramme
Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Arbeitsmarktpolitik sind ebenfalls Themen, die uns alle betreffen – unabhängig davon, ob wir Christen, Muslime, Juden, Buddhisten oder Atheisten sind.
Wer seine Entscheidung, zur Wahl zu gehen und seine Stimme dieser oder jener Partei zu geben, nur davon anhängig macht, ob sie vermeintlich türkeifreundlich ist oder ob sich für die Interessen von Muslimen und der islamischen Gemeinschaft in Deutschland einsetzt, der fokussiert sich zu sehr auf seine Herkunft oder religiöse Identität. Damit begeben sich aber gerade diejenigen in einen Widerspruch, die sonst immer lautstark kritisieren, auf ihre Religion oder Ethnie reduziert zu werden.
Hilfreich bei der Entscheidung ist es, sich eingehender mit den Wahlprogrammen der einzelnen Parteien nicht nur etwa in Bezug auf den Glauben zu befassen. Wer sich als Muslim in diesem Land Gehör verschaffen möchte und als gleichberechtigter Bürger wahrgenommen werden will, der sollte von seinen Bürgerrechten Gebrauch machen - und hierbei sich weder von ausländischen Staatspräsidenten noch von islamistischen Fundamentalisten instrumentalisieren lassen.
Canan Topçu
© Qantara.de 2017
Canan Topçu, Jahrgang 1965, ist türkischstämmige Journalistin und Autorin und lebt seit 1973 in Deutschland.