Auf der Suche nach den Rädelsführern

Die sogenannten "Ligen zum Schutz der Revolution" stehen unter dringendem Tatverdacht, hinter dem Mord an Chokri Belaid zu stehen. Doch auch Salafisten oder Netzwerke von Sicherheitskräften des früheren Ben-Ali-Regimes könnten für den Anschlag verantwortlich sein. Einzelheiten von Beat Stauffer

Von Beat Stauffer

Nach dem Mord an Chokri Belaid, dem Generalsekretär der "Partei der demokratischen Patrioten", die erst im August 2012 aus dem Zusammenschluss zweier linker Splitterparteien hervorgegangen ist, scheint sich die Stimmung in Tunesien deutlich gegen "Ennahda" zu wenden. Dabei mögen die Aussagen der Angehörigen des Mordopfers, welche die islamistische Partei für die Bluttat verantwortlich gemacht haben, eine Rolle spielen.

Doch auch das klare Dementi von "Ennahda"-Präsident Rachid Ghannouchi wie auch von Premierminister Jebali, mit diesem Mord auch nur im Entferntesten etwas zu tun zu haben, vermochte offensichtlich die Stimmung in der Bevölkerung nicht zu beeinflussen.

Proteste nach dem Anschlag auf Belaid in Tunis; Foto: dpa
Tunesien im Aufruhr: In der Hauptstadt Tunis und anderen Metropolen des Landes versammelten sich auch am zweiten Tag in Folge zahlreiche Menschen, um gegen den Mord an Chokri Belaid zu protestieren. Die Opposition rief zum Generalstreik auf.

​​Für das säkulare Lager, aber auch für die meisten unabhängigen Beobachter ist klar, dass "Ennahda" zumindest indirekt eine Verantwortung an diesem politischen Mord trägt. Denn die derzeit in Tunesien regierende Partei hat die "Ligen zum Schutz der Revolution", welche unter starkem Verdacht stehen, die Tat begangen zu haben, stets verteidigt und alle Forderungen, diese Gruppierungen aufzulösen, kategorisch abgelehnt.

Unter Verdacht

Der Vorwurf richtet sich nicht ohne Grund gegen die Revolutionsligen. Mitte Oktober 2012 wurde in der südtunesischen Stadt Tataouine der lokale Vertreter von "Nidaa Tounes" ("Der Aufruf Tunesiens"), der neuen Sammelbewegung unter der Führung von Ex-Ministerpräsident Béji Caid Essebsi, angegriffen und zu Tode geprügelt. Während eine erste medizinische Expertise noch einen durch Stress verursachten Herzinfarkt für den Tod verantwortlich machte, steht mittlerweile fest, dass der Regionalpolitiker an den Folgen des Angriffs von Anhängern der lokalen Liga gestorben ist.

Nach diesem ersten politischen Mord an einem Regionalpolitiker kam es damals im Land zu heftigen Protesten gegen die Revolutionsligen. Doch weder "Ennahda" noch der Innenminister hielten es für angebracht, die Ligen stärker unter staatliche Kontrolle zu nehmen. Ein Verbot, wie es säkulare Parteien forderten, lehnten sie gar kategorisch ab.

Es sollte nicht bei diesem einen Vorfall bleiben. Am 22. Dezember 2012 griffen Mitglieder der lokalen Revolutionsligen auf der Insel Djerba erneut eine Versammlung von "Nidaa Tounes" an und blockierten das Kongresszentrum stundenlang. Nur mit Mühe gelang es damals, den Béji Caid Essebsi, den 85-jährigen Präsidenten der Partei, unter Polizeischutz in Sicherheit zu bringen. Essebsi selber hatte wiederholt von Morddrohungen gesprochen, die er regelmäßig erhalte. Heute scheint klar, dass diese Drohungen ernst gemeint waren.

Mitglieder von Revolutionsligen waren höchstwahrscheinlich auch für die gewalttätigen Ausschreitungen vor dem Hauptsitz der Gewerkschaft UGTT im Zentrum von Tunis verantwortlich, bei denen es zu Dutzenden von Verletzten gekommen ist. Sie haben zudem regelmäßig und landesweit Versammlungen von säkularen Parteien und Gewerkschaften angegriffen.

Der tunesische Historiker Mohamed Tlili; Foto: Beat Stauffer
Der lange Arm des Ben-Ali-Regimes: Der tunesische Historiker Mohamed Tlili glaubt, dass in den Revolutionsligen mittlerweile auch ehemalige Funktionäre der Einheitspartei RCD Unterschlupf gefunden haben, die sich auf solchem Weg eine neue politische Zukunft erhofften.

​​Der letzte derartige Angriff erfolgte laut der tunesischen Presseagentur TAP am vergangenen Sonntag (3. Februar 2013) in der Stadt El Kef unweit der algerischen Grenze. Dabei griffen Mitglieder dieser Revolutionsligen eine Veranstaltung der "Partei der demokratischen Patrioten" an und verletzten elf Personen, unter anderem auch Chokri Belaid.

Belaid selber hatte schließlich in einer Sendung der TV-Senders Nessma, die am Vorabend seiner Ermordung ausgestrahlt wurde, die Revolutionsligen scharf angegriffen und "Ennahda" bezichtigt, deren Gewalt nicht nur zu dulden, sondern aktiv zu unterstützen. Es gehöre zur politischen Strategie von "Ennahda", Gewalt gegenüber politischen Gegnern zu schüren, sagte Belaid sinngemäß. Er berichtete in diesem Zusammenhang auch von Morddrohungen, die er via soziale Medien regelmäßig erhalte.

Der bewaffnete Arm von "Ennahda"?

Für die meisten Beobachter steht mittlerweile fest, dass die "Ligen zum Schutz der Revolution" in engem Kontakt zu "Ennahda" stehen, von dieser gezielt eingesetzt und auch finanziert werden – dies, obwohl sich die Partei offiziell zur Gewaltfreiheit verpflichtet hat und sich nach außen hin gemäßigt gibt.

Die Ligen seien ohne Zweifel "der bewaffnete Arm" von "Ennahda", erklärt etwa Mohamed Tlili, Historiker und Dozent an der Universität von Jendouba, gegenüber Qantara.de. Ähnlich äußerte sich auch der Oppositionspolitiker Iyed Dahmani. Die enge Beziehung zwischen "Ennahda" und den Revolutionsligen lasse sich leicht belegen, ergänzte zudem der Journalist Haythem El Mekki: Im Hauptquartier der Regierungspartei im Quartier "Berges du Lac" gingen prominente Mitglieder der Ligen fast täglich ein und aus.

"Ennahda" schweigt sich über die tatsächliche Beziehung zu den Revolutionsligen aus. Parteipräsident Ghannouchi sprach ihnen aber kürzlich den Ehrentitel "Gewissen der Revolution" zu, und auch andere Exponenten von "Ennahda"
versicherten den mittlerweile national organisierten Ligen ihrer Solidarität. Diese trügen dazu bei, die "unvollendete Revolution" voranzutreiben. Unterstützung erfuhren die Revolutionsligen auch von prominenten Mitgliedern der Partei "Congrès de la République", so etwa vom Anwalt Mohamed Abbou.

Dubiose Revolutionäre

Wer aber steht hinter den Revolutionsligen? In den ersten Wochen und Monaten nach der Revolution hätten sich besorgte Bürger organisiert, um ihre Quartiere vor Plünderungen zu schützen und um auch, um konterrevolutionäre Akte zu verhindern, erklärte Samir Rabhi, der Sprecher der mittlerweile aufgelösten ersten "Hohen" Revolutionskommission.

Rachid Ghannouchi; Foto: picture alliance
Schwindendes Vertrauen in "Ennahda"-Präsident Rachid Ghannouchi: Für das säkulare Lager, aber auch für die meisten unabhängigen Beobachter ist klar, dass "Ennahda" zumindest indirekt eine Verantwortung an diesem politischen Mord trägt.

​​Doch nach den Wahlen hätten diese Ligen ihre Existenzberechtigung verloren. Die ursprünglichen Bürgerinitiativen seien zudem schon wenige Monate nach der Revolution von "Ennahda"-Aktivisten unterwandert worden und seien nun Instrumente in den Händen der Islamisten, analysieren mehrere Beobachter übereinstimmend.

Einen anderen Aspekt beleuchtet der Historiker Mohamed Tlili. In den Revolutionsligen hätten mittlerweile auch ehemalige Funktionäre der Einheitspartei RCD Unterschlupf gefunden, die sich auf solchem Weg eine neue politische Zukunft erhofften. Chokri Belaid, der ermordete Linkspolitiker, behauptete in seinem letzten Fernsehauftritt gar, die Ligen hätten "Bauarbeiter" angeheuert, um seine Parteiversammlung in der Stadt El Kef gewaltsam zu stören. Häufig ist auch die Rede von Hooligans, die in den Ligen ein neues Betätigungsfeld gefunden hätten.

Die mittlerweile national organisierten Ligen halten sich mit Stellungnahmen auffällig zurück und scheinen es vorzuziehen, im Halbdunkel tätig zu sein. Es gehe darum, die Revolution zu verteidigen, die arabisch-islamische Identität zu stärken und die Korruption zu bekämpfen, ist etwa zu vernehmen. Weshalb diese Ziele nicht auf politischem Weg verfolgt werden, ist nicht zu erfahren.

Zwar ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht auszuschließen, dass Salafisten oder Netzwerke der ehemaligen Sicherheitsapparate von Ben Ali den Mord an Belaid begangen haben. Doch die Revolutionsligen stehen unter dringendem Tatverdacht. Sie stellen nicht nur für "Ennahda", sondern auch für die Partei des Staatspräsidenten Marzouki eine schwere Hypothek dar. Sollten sie tatsächlich hinter dem Mord an Belaid stehen, so würde wohl kein Weg an deren Auflösung vorbeiführen.

Beat Stauffer

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de