Ein Denker der Gemeinsamkeiten
Vor zehn Jahren ging auf dem Boulevard von Venice Beach in Los Angeles ein gepflegter älterer Herr spazieren, der eingehend die Läden musterte, die den Boulevard säumten: In dem einen wurden indianische Accessoires verkauft und schamanische Riten beworben, im anderen hatte sich ein Yoga-Studio eingerichtet, daneben wurde chinesische Akkupunktur angeboten, ein paar Läden weiter gab es japanische Massagen und Bücher über Astrologie und Esoterik, schließlich die neuesten Produkte aus dem Silicon Valley neben einem Laden für Rockmusik auf Vinyl.
Der Spaziergänger hieß Daryush Shayegan. Später schrieb er über seine Beobachtung: "Alles war hier gleichzeitig anwesend. Als hätte man es geschafft, auf horizontaler Ebene, nebeneinander, all die verschiedenen Schichtungen anzuordnen, die in der Geologie unseres Bewusstseins sonst übereinander angeordnet sind".
Der 1935 geborene Shayegan war ein Kosmopolit von Gottes Gnaden. Er publizierte auf Französisch, Englisch und Persisch; er sprach und las aber auch Deutsch, Sanskrit und Russisch. Wer ihn in seinen letzten Lebensjahren zuhause besuchten durfte, wandelte durch ein Privatmuseum der Weltreligionen. Dabei lag dieses Zuhause in einer Stadt, in der man einen solchen Synkretismus, solche Weltoffenheit kaum vermuten würde: Teheran.
Im inneren Exil
Von der Islamischen Revolution 1979 aus seiner iranischen Heimat vertrieben, kehrte der 1935 geborene Denker und Religionswissenschaftler 1991 zurück, nicht zuletzt um seine Bibliothek zu retten. Wiewohl er in Teheran in einer Art innerem Exil lebt, war er eine der wenigen Persönlichkeiten, die zwischen dem Regime der Mullahs und dem des Schahs eine Brücke bildeten.
Auf Shayegan geht die Idee eines Dialogs der Zivilisationen zurück, die 1977 noch unter dem Regime des Schah mit einer Konferenz in Angriff genommen wurde und dann unter dem Reform-Präsidenten Khatami wiederbelebt wurde. Shayegans Initiative wurde gekrönt, als die UN ausgerechnet das Jahr 2001 zum Jahr des Dialogs zwischen den Kulturen erklärte.
Der Traum eines friedlichen Ausgleichs auf der Grundlage gegenseitigen Respekts war mit den Anschlägen von 9/11 freilich ausgeträumt. Shayegans schonungslose Analysen des Nihilismus im Westen wie in den asiatischen Gesellschaften gewannen dadurch jedoch an Aktualität.
Dabei ist Shayegan kein Soziologe, sondern Philosoph und Religionswissenschaftler. Welten trennen ihn von der modischen postkolonialen Theorie, welche von der kulturellen und religiösen Tiefendimensionen der kolonisierten Gesellschaften nichts wissen will.
Anders Shayegan: Nach seiner Schulausbildung in England und der Schweiz wurde es ihm zum Bedürfnis, zu erfahren, was jenseits einer oberflächlichen Nachahmung des Westens an Halt und Haltung, an Widerstandskraft und Würde im Islam noch übrig war.
Über den iranischen Tellerrand hinaus
Da diese Fragen alle asiatischen Gesellschaften betrafen, blickte Shayegan bald über den iranischen Tellerrand hinaus und auch nach Indien, China und Japan. Er lernte Sanskrit und arbeitete in vielen Studien die Parallelen und Zusammenhänge heraus, die schon vor der Konfrontation mit dem Westen dem asiatischen Raum eine spirituelle Kontinuität und Gemeinsamkeit verliehen hatten.
Paradoxerweise fand Shayegan die besten Antworten im Westen selbst, wo die Frage nach der Rolle von Tradition und Spiritualität angesichts von Materialismus und Säkularismus viel älter war. Shayegan schloss, wie viele andere Intellektuelle der islamischen Welt auch, an C.G. Jung, Heidegger und die Existenzphilosophie an, aber auch an Religionswissenschaftler wie Rudolf Otto oder den französischen Iranisten Henri Corbin. Er wurde Teil einer intellektuellen Bewegung, die von einer "philosophia perennis" ausging, einer allen Menschen gemeinsamen spirituellen Basis, welche überhaupt erst die Grundlage für ein Gespräch der Kulturen abgibt.
Diese Vorstellung wirkt heute veraltet, und "Philosophia perennis" ist inzwischen sogar der Name einer islamfeindlichen Webseite – ein krasser Fall neurechten Etikettenschwindels. Shayegans Werk zeigt jedoch, welches Potenzial darin noch steckt, zumal wenn man diese Idee, wie in seinem letzten größeren Buch, "Das Licht kommt aus dem Westen", mit Psychoanalyse und Poststrukturalismus kurzschließt.
Islamische Mystiker wie Ibn Arabi und Sohrawardi und chinesische Weise wie Dschuang Dsi werden darin mit dem Aufklärer Diderot ebenso zusammengedacht wie mit der Rhizom-Theorie von Gilles Deleuze. Ähnlich dem Wurzelgeflecht des Rhizoms bei bestimmten Pflanzen ist jede sinnstiftende Idee gleichzeitig mit vielen anderen verknüpft – wie die Läden für die unterschiedlichen spirituellen Bedürfnisse in Venice Beach.
Die Aufgabe lautet, sich diese Gleichzeitigkeit bewusst zu machen und ihr Potenzial zu nutzen. Dies aber kann nur gelingen, wenn das "Wissen um die Waage" ("Ilm al-Mizan", wie es bei den arabischen Mystikern heißt) praktiziert wird: Das heißt, wenn materielle und spirituelle Anliegen wieder in einen Ausgleich gebracht werden.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2018
Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Zuletzt erschien von ihm "Jenseits des Westens. Für einen neuen Kosmopolitismus" im Hanser Verlag, München 2018.