247 Artikel für Ägyptens Zukunft
"Ägypten ist ein Geschenk des Nils an die Ägypter, und Ägypten ist ein Geschenk der Ägypter an die Menschheit": So beginnt der neue Verfassungsentwurf, den ein 50-köpfiges Komitee am späten Sonntagabend (01.12.2013) in Kairo fertigstellte. Etwas mehr als vier Monate dauerte die Arbeit am Grundgesetz, 247 Artikel umfasst dieses in seiner endgültigen Version. Am Dienstag soll der Entwurf Übergangspräsident Adli Mansur vorgelegt werden. Dieser hat danach 30 Tage Zeit, eine Volksabstimmung einzuberufen.
Amr Moussa, der Vorsitzende des Verfassungskomitees, sagte, die neue Verfassung erfülle die Hoffnungen der Revolution auf Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Unter ägyptischen Menschenrechtlern gehen die Meinungen jedoch auseinander. Amr Abdel Rahman, Leiter der Abteilung für Bürgerrechte bei der unabhängigen Menschenrechtsorganisation "Egyptian Initiative for Personal Rights", meint: "Verglichen mit der alten Verfassung ist dies definitiv ein Schritt vorwärts. Verglichen mit internationalen Menschenrechtsstandards hingegen hinken wir immer noch zurück.“
Scharia-Bezüge reduziert
Der nun vorgestellte Entwurf ist nicht der erste seit der Revolution vom 25. Januar 2011. Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hat bereits ein von islamistischen Abgeordneten dominiertes Gremium eine Verfassung vorgelegt, die anschließend von 64 Prozent der Bevölkerung angenommen wurde. Als die Armee Präsident Mohammed Mursi im Juli dieses Jahres stürzte, setzte sie auch die Verfassung mit ihrem stark islamistischen Grundton außer Kraft.
Das neue Gremium, in dem nur zwei Islamisten sitzen, reduzierte nun die Bezüge zur Scharia. Artikel 2 definiert zwar weiterhin den Islam als Staatsreligion und die Prinzipien des islamischen Gesetzes als die Hauptquelle der Gesetzgebung. Die wichtigste religiöse Einrichtung des Landes, die Al-Azhar-Moschee, soll auf die Gesetzgebung nun aber keinen Einfluss mehr ausüben. Abdel Rahman betont, das für Religions- und Glaubensfragen verantwortliche Gremium sei künftig keine religiöse Institution mehr, sondern das Verfassungsgericht. "Das ist ein Plus."
Er weist allerdings darauf hin, dass die Vertreter des konservativen Islam sich in einigen Punkten durchsetzten, beispielsweise bei den Frauenrechten. Zwar verbietet der neue Entwurf Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion. Gleichzeitig soll der Staat aber sicherstellen, dass die Freiheit der Frau nicht in Konflikt mit den Vorgaben der Scharia kommt.
Religiöse Parteien verboten
Auch in anderen Bereichen gab es keinen klaren Bruch mit früheren Verfassungen. So garantiert der Entwurf zwar Religionsfreiheit. Allerdings gilt dies nur für den sunnitischen Islam sowie das Christentum und das Judentum. Minderheiten wie die ägyptischen Schiiten oder Bahai werden ihren Glauben damit auch in Zukunft nicht ungehindert ausleben können.
Hafez Abu Saeda, Direktor der "Egyptian Organisation for Human Rights", streicht dennoch die positiven Errungenschaften im Vergleich zur letztjährigen Verfassung heraus. Dass eine angemessene Repräsentation für alle gesellschaftlichen Gruppen im Parlament vorgeschrieben wird, sei ein bedeutender Schritt. "Das zwingt das Parlament dazu, den Willen des ägyptischen Volkes zu reflektieren ohne Bezug auf Religion, Alter oder Geschlecht", erklärt er.
Ein neuer Artikel erklärt indes religiöse Parteien für illegal. Die Partei "Freiheit und Gerechtigkeit", der politische Arm der Muslimbruderschaft, könnte somit von Wahlen ebenso ausgeschlossen werden wie die "Partei des Lichts" der erzkonservativen Salafisten. Gemeinsam hatten die beiden Gruppierungen bei der ersten freien Parlamentswahl des Landes Ende 2011 zwei Drittel der Stimmen auf sich vereint.
Armee behält Privilegien
Die neue Verfassung sieht ein ausgewogenes Machtverhältnis von Parlament und Präsident vor. Dieses Gleichgewicht könnte jedoch von der Armee untergraben werden, die ihre weitreichenden Privilegien auch in die neue Ära hinüberrettet. So wird das Militärbudget auch weiterhin nicht unter parlamentarische Aufsicht gestellt. Die Armee behält sich außerdem das Recht vor, während der kommenden zwei Legislaturperioden den Verteidigungsminister zu bestimmen.
Auch dürfen die Generäle weiterhin Zivilisten vor Militärgerichte stellen, allerdings nur noch in Einzelfällen. Abu Saeda sieht in den Sonderrechten für das Militär eine Gefahr, sagt aber auch, dass es angesichts der derzeitigen politischen Realität keine andere Wahl gegeben habe. Man befinde sich schließlich "in einer sehr kritischen Situation und sehr speziellen Zeit. Deshalb müssen wir diesen Kompromiss eingehen."
Abdel Rahman kritisiert hingegen, dass die derzeitige, nicht gewählte Regierung alles daransetze, dass die Verfassung mit mehr Stimmen angenommen werde als diejenige der Islamisten vor einem Jahr. Um dies sicherzustellen, habe sie den mächtigsten Institutionen des Landes, darunter Armee und Al-Azhar-Moschee, weitreichende Zugeständnisse gemacht.
Das große Dilemma bestehe darin, dass man eine demokratische Verfassung wolle, sich aber dem Willen und der Taktik autoritärer Kräfte beugen müsse, damit sie angenommen wird. "Das kann nicht funktionieren", ist der Menschenrechtler überzeugt. Das Ergebnis sei unweigerlich ein Kompromiss, der die hohen Erwartungen der Bürger nicht erfüllen könne.
Markus Symank
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Redaktion: Thomas Grimmer/ DW & Arian Fariborz/Qantara.de