Zeitreise in eine verlorene Welt
Sechs Jahre lang mussten sich begeisterte Leser von Orhan Pamuks Romanen gedulden. Dann erschien im Dezember 2014 das lang erwartete, knapp 500 Seiten gewichtige Familienepos, das mit Stammbaum der Figuren und einer ergänzenden Chronologie im Anhang einen ganz eigenen Kosmos schafft. Der Roman handelt von einer fiktiven Welt, die jedoch heute schon genauso gut Realität sein könnte.
Wie bereits in seinem Debüt-Roman "Cevdet Bey und seine Söhne" aus dem Jahr 1982 legt Pamuk mit "Kafamda Bir Tuhaflık" (etwa: "Diese Fremdheit in mir"), eine Familiensaga vor. Neu ist, dass Pamuk sein Werk nicht wie noch in seinem letzten Roman "Die Unschuld der Dinge" von 2008 im Milieu der Istanbuler Highsociety aus dem Stadtbezirk Nişantaşı ansiedelt, dem Pamuk selbst entstammt. Vielmehr widmet er sich den Zugezogenen, den Arbeitsmigranten aus den anatolischen Kleinstädten, die ihrem Platz in der Millionenmetropole suchen. Im Frühling 2016 soll der Roman im Hanser Verlag in der Übersetzung von Gerhard Meier erscheinen.
Reise in die "Seltsamkeit"
Der Roman behandelt eine Zeitspanne von 30 Jahren und erzählt die Familiengeschichte der beiden Familien Aktaş und Karataş. Verwandt sind sie über die beiden Brüder Hasan und Mustafa, die in den 1970er Jahren vom mittelanatolischen Beyşehir nach Istanbul in die Stadtteile Duttepe und Kültepe emigrieren.
Protagonist ist Mevlut, Mustafas Sohn. Er wächst bei seinem Vater in Istanbul auf, besucht dort die Schule, bricht sie jedoch vorzeitig ab und arbeitet von da an erst mit seinem Vater – und nach dessen Tod – alleine als Joghurt-Straßenverkäufer.
Auf einer Hochzeit erblickt Mevlut Samiha, ein Mädchen mit schönen Augen, dem er jahrelang Briefe schreibt, bis er die Nachricht erhält, sie sei bereit für eine Beziehung mit ihm. Dass jedoch eine Verwechselung vorliegt, merkt Mevlut, als nicht Samiha mit ihm die Reise nach Istanbul antritt, sondern ihre Schwester Rahiya, die fälschlicherweise die Briefe erhalten hat. Schuld an der Verwechselung ist sein Cousin Süleyman, der selbst ein Auge auf Samiha geworfen hat. Mit der Entführung von Rahiya beginnt Mevluts Reise in die "Seltsamkeit", ein Gefühl, das ihn immer wieder einholt und das sich als Motiv durch den gesamten Roman zieht.
Mit Rahiya führt Mevlut ein glückliches Leben, wenn auch in Armut. Sie bekommen zwei Kinder. Rahiya stirbt bei dem Versuch, ihr drittes Kind selbst abzutreiben. Jahre später heiratet Mevlut Samiha. Sie entpuppt sich als starrsinniger und verständnisloser als ihre verstorbene Schwester. Als Mevlut Abend für Abend durch die Straßen wandert, um seine Ware zu verkaufen, wird ihm schließlich klar, wie sehr er mit der Stadt verbunden ist und dass er nichts auf der Welt so sehr geliebt hat wie Rahiya.
Pamuk erzählt die Familiengeschichte collagenartig durch einen Ich-Erzähler, der im ständigen Dialog mit dem Leser steht. Rückblenden und O-Töne, die an Reportagen erinnern, in denen die Charaktere ihre Geschichte erzählen und kommentieren, verleihen der Geschichte dabei eine gewisse Dynamik.
Zerrissen zwischen Heimatdorf und Metropole
In seinen vorangegangenen Romanen setzte Pamuk seine "gutbürgerlichen" Charaktere gekonnt mit dem Verfall der einstigen Hauptstadt Istanbul und dem Gefühl des hüzün, der Melancholie, gleich. Dagegen bleibt in seinem neuen Roman das Seelenleben seiner Protagonisten, deren Zerrissenheit zwischen Heimatdorf und Metropole, in der Darstellung eher oberflächlich. Pamuks Stärke wiederrum liegt auch in diesem Roman in der Beschreibung der Empfindungen des durch die dunklen Straßen wandernden Mevlut: seine Zerrissenheit, einerseits zur Stadt dazu zu gehören und andererseits ständig auf der Suche zu sein – zwischen der Realität (das glückliche Leben, das er mit Rahiya führt) und der Vorstellung (was wohl gewesen wäre, hätte damals Samiha die Briefe erhalten und wäre mit ihm durchgebrannt).
Pamuk selbst hat an anderer Stelle auf die von ihm bewusst eingesetzte Intertextualität seines postmodernen Schreibstils hingewiesen. So ist die Grundstimmung des Protagonisten, jene Seltsamkeit (tuhaflık), (etwa: Merkwürdigkeit, Sonderbarkeit) vielleicht als Referenz auf die garip (etwa: seltsame Dichtung) zu verstehen – jene lyrische Gattung, die programmatisch für Orhan Veli war, einem der bekanntesten Stadtdichter, der in seinen Gedichten immer wieder das Gefühl des Fremdseins in den Straßen, das ambivalente Gefühl des Dichters zu seiner urbanen Umgebung thematisierte.
Gleichzeitig erinnert Pamuks Geschichte des Migranten an die Lyrik von Turgut Uyar, nun in die große Form erzählender Prosa übersetzt. In seiner Lyrik thematisiert Uyar den Migranten, der wie Mevlut von Häuserwänden, Reklametafeln und Anonymität verschluckt wird und immer das Gefühl von Einsamkeit in sich trägt.
Eingebettet ist die Geschichte in das Istanbul der Jahre von 1969 bis 2012 – mit seinen rasanten Entwicklungen und tiefgreifenden Veränderungen. Es ist der Schauplatz politischer Entwicklungen wie der Polarisierung zwischen Ultra-Nationalisten und Linken, Migrationswellen, illegalen Immobiliengeschäften oder dem Wegsterben alter Berufe wie eben des Joghurt-Straßenverkäufers.
Kritik an Pamuks Roman
Für Cem Erciyes, Literaturkritiker der Zeitschrift "Radikal Kitap", macht dies die Stärke des Buches aus. Für ihn ist der Roman ein Stadtmärchen und Mevlut ein unsterblicher Held und eine Symbolfigur für das in Vergessenheit geratene Istanbul. Dagegen kritisiert die Tageszeitung "Taraf", dass die Welt, die Pamuk in seinem Roman zu beschreiben versucht, dem Autor angeblich völlig fremd sei. Pamuk verstehe sich nicht so sehr auf den Bezirk Tarlabaşı, dem einstigen Viertel der kleinen Leute, sondern mehr auf die Beschreibung, wie der Protagonist Mevlut in seinen Jugendjahren ständig onaniert.
Noch immer ist Pamuk ein Autor, der in seinem Heimatland polarisiert. Schon 2006 erklärte er, knapp ein Jahr vor der Verleihung des Literaturnobelpreises in einer Schweizer Zeitung, auf türkischem Boden seien 30.000 Kurden und eine Million Armenier umgebracht worden und niemand außer ihm traue sich, das auszusprechen. Die Staatsanwaltschaft klagte ihn daraufhin wegen "Beleidigung des Türkentums" an, laizistische Kreise erklärten ihn zum "Nestbeschmutzer", der sich bei den ausländischen Staaten anbiedere. Und noch immer betrachten viele den kürzlich verstorbenen Yaşar Kemal als den würdigeren Nobelpreisträger.
Literaturkritiker monieren häufig, Pamuk bediene sich für seine Romane an fremdem Geistesgut. Die Tageszeitung "Hürriyet" beschuldigte Pamuk gar, ein Plagiator zu sein. So sei sein Roman "Rot ist mein Name" eine Kopie des Romans "Ancient Evening" des amerikanischen Autors Norman Mailer und sein Buch "Die weiße Festung" enthalte Passagen eines Werks von Mehmet Fuat Carım. Bislang blieben die Anschuldigungen jedoch ohne Konsequenzen.
Pamuk bleibt vor allem in der Türkei ein umstrittener Autor. Seine Stärke ist seine Passion, Fragmente aus dem Alltagsleben seiner Stadt wie ein Archäologe zusammenzuführen, um sich gleich drauf in ihren Geschichten zu verlieren. Allerdings sind bei seinem neuesten Roman die Figuren schwächer als ihre Kulisse, die Stadt. Mit seinem Roman gibt Pamuk dem durch Autobahnen, Hochhäuser und Menschenmassen verdrängten Istanbul von einst vor allem einen Ort, weiterzuleben.
Ceyda Nurtsch
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