Ein Hauch von Aesop
Osama Alomars Sprache ist nicht poetisch, und eine festgefügte Handlung sucht man vergeblich. Viele seiner kurzen Erzählungen werden in schlichten Worten von sprechenden Steinen, Tieren, Sümpfen oder dem Wetter erzählt. Auf den ersten Blick wirken sie wie lehrreiche Kindergeschichten. So besteht etwa eine Geschichte aus der Mitte des Bandes, die den Titel "Embrace" (Umarmung) trägt, aus einem einzigen Satz: "In einem schönen Garten umarmen sich die Bäume über zwei streitenden Brüdern."
"Embrace" beruht, wie viele von Alomars Geschichten, auf den Zusammenprall von Gegensätzen. Wir befinden uns in einem schönen Garten, wo die friedliche Pflanzenwelt über den Köpfen zweier streitsüchtiger Menschen zueinander findet.
Für sich genommen würde diese Geschichte wohl kaum die Aufmerksamkeit des Lesers erregen. Doch im Gesamtbild ergibt sich ein Mosaik aus winzigen, aussagestarken Mikro-Erzählungen, entstanden aus der Fabulierkunst eines ironischen Erwachsenen mit moralischem Anspruch.
Auf der Jagd nach der Beleidigung
"Insult" (Beleidigung) ist eine weitere Geschichte, die durch Widersprüche funktioniert. Ihre drei Sätze lauten: "Ein Mann von Prinzipien war gezwungen, eine Beleidigung zu schlucken. Er verschluckte sich und starb. Der Stiefellecker jedoch jagte mit ganzer Kraft der Beleidigung hinterher, weil er fürchtete, er würde Hungers sterben."
Und auch hier erweist sich Alomar als ein Meister der Mikro-Fiction: "Bevor ich zur Arbeit aufbrach, band ich meine Zunge zu einer großen Schleife. Meine Kollegen gratulierten mir zu meiner Eleganz. Sie lobten mich vor unserem Chef, der seinerseits Bewunderung äußerte und alle Angestellten aufforderte, sich an mir ein Beispiel zu nehmen."
Es ist das Auftauchen des hechelnden Stiefelleckers und seiner Angst, er werde "Hungers sterben", die der winzigen Erzählung ihre überraschende, komische Wendung gibt. Stellenweise könnte die Übersetzung etwas knapper sein, doch im großen Ganzen lässt sich die einfache Sprache gut vom Arabischen ins Englische übertragen.
Wer ist der riesige Müllsack?
Viele der Geschichten spielen auf dem Hintergrund Syriens – wir lesen von Tyrannen, regimetreuen Autoren, Gefängniszellen und Polizeiverhören. Doch sie könnten ebenso gut vom Leben anderswo handeln. Die Geschichte "Auf der Spitze der Pyramide" beginnt mit einem riesigen Müllsack, der, "als er die in der Sonne glänzende gesellschaftliche Pyramide sah, an deren Spitze gelangen wollte".
Als der riesige Müllsack (der ein ehrgeiziger syrischer Offizier oder Donald Trump oder irgendein beliebiger Vorgesetzter sein könnte) endlich nach vielen Mühen den Gipfel erreicht, platzt er schier vor Freude. Dann bohrt die Spitze versehentlich ein Loch in ihn. "Schmutziges Wasser, vermischt mit Abfall, floss an allen vier Seiten herunter, bis das gesamte Bauwerk von einer gewaltigen Menge schleimigen Mülls überzogen war, dessen abscheulicher Gestank bis in die fernsten Fernen drang." Diese kleine Schicksalswende freut den Leser, und sie könnte sich auf jeden beliebigen, vom Ehrgeiz zerfressenen Müllsack beziehen.
Eine Kostprobe für den Satan
Es gibt viele derartige Umkehrungen und überraschende Umschwünge in Alomars Buch. In der Kurzgeschichte "A Taste" (Kostprobe) tritt Satan auf. Der Teufel kostet versuchsweise "mit der Fingerspitze eine sehr, sehr kleine Menge menschlichen Hasses. Sie vergiftete ihn und er starb sogleich."
Doch die Sammlung enthält nicht nur Müllsäcke und Teufel, sondern auch Flüsse und Wolken und eine ganze Reihe von Geschichten, in denen Blumen eine Rolle spielen. Da gibt es beispielsweise "Flowers of Different Classes", Blumen unterschiedlicher Gattungen, "The Garlic and the Flower", Knoblauch und die Blume, "The Kinds of Flowers", die Arten der Blumen, und "The Soul of Flowers", die Seele der Blumen. In den meisten Fällen sind die Blumen mit sehr menschlichen Kämpfen kontrastiert.
Oft wird die Perspektive des Lesers auf den Kopf gestellt, etwa wenn der Knoblauch den Duft der Blumen nicht ausstehen kann, oder wenn, in "The Kinds of Flowers", ein Mensch seinen Garten mit zufriedener Freude betrachtet. "Doch als er sich selbst in eine Blume in jenem Garten verwandelte, sah er auf einmal alle andere Arten von Blumen als abgrundtief hässlich".
In Alomars Geschichten treten auch gelegentlich Menschen auf, wie in "The Kinds of Flowers" oder "Insult". Doch sie sind gewöhnlich Archetypen, und sie haben nur selten einen Namen. Einer der weniger Menschen ist "die fünfjährige Samar", die sehnsüchtig eine Puppe auf der anderen Seite ihres Kinderzimmers anstarrt.
Irritierende Fremdheit
"The Forbidden Doll" (Die verbotene Puppe) erzählt im Märchenton von einem kleinen Mädchen, einer grausamen Stiefmutter und einem abwesenden Vater. Hier gibt es keine kinderfressende Hexe und keinen Ball im Königsschloss, die die kleine Samar bedrohen oder verlocken könnten. Es gibt nur Samar selbst, die furchtsam im Dunkeln sitzt und sich verzweifelt wünscht, sie könne den Raum durchqueren und ihre schöne Puppe in die Arme schließen. Doch sie darf sich dem Befehl ihrer Stiefmutter, dass sie im Bett zu bleiben hat, nicht widersetzen.
Der Text "The Forbidden Doll" könnte als in sich geschlossene Kurzgeschichte aus der englischsprachigen Literaturtradition durchgehen, auch wenn er von vielen ungewohnten Ellipsen durchsetzt ist. Das gilt jedoch nicht für alle Geschichten aus Alomars Band. Manche sind, für sich allein betrachtet, flach oder allzu didaktisch. Insgesamt jedoch enthält "The Teeth of the Comb" genügend irritierende Fremdheit, um das Leseerlebnis neuartig und interessant gestalten.
So auch in dem kurzen "Kicks" (Tritte): "Die beiden Verhörspezialisten hatten den Häftling in einer Ecke des Raumes liegen lassen, stark blutend und zitternd vor Entsetzen. Bald darauf versetzte ihm die Ecke einen Tritt, der ihn quer durch den Raum schleuderte. Auf diese Weise traten die vier Ecken nach ihm und warfen ihn hin und her, bis das Dach über ihm zusammenbrach und ihm den Rest gab."
Kurzgeschichten innovativ und erfrischend zugleich
Es ist ein ebenso banales wie schreckliches Bild: Ein Gefangener, der verletzt ist und vor Angst zittert, wird plötzlich von den Wänden seiner Gefängniszelle attackiert. Vielleicht wird er vom System der Masseninhaftierungen angegriffen, das unter dem Gewicht seiner eigenen Grausamkeit zusammenbricht, oder vielleicht bricht auch nur ein Teil des Systems zusammen, und tötet dabei den Mann, der sich unter ihm duckt.
Aphoristisch-politische Geschichten wie diese sind im Arabischen nicht unüblich. Alomars Geschichten ähneln in gewisser Weise jenen des großen syrischen Schriftstellers Zakaria Tamer, den Kurzgeschichten des jungen jordanischen Autors Hisham Bustani oder auch den Werken des ägyptischen Schriftstellers Mohamed Makhzangi. Doch im neuen Gewand der Übersetzung sind sie innovativ und erfrischend zu lesen.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2017
Übersetzt aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff